Vorwort
zur deutschen Ausgabe
Erschienen in: Recherchen 50: Option Tanz – Performance und die Politik der Bewegung (06/2008)
Das Denken von André Lepecki ist zu einem zentralen Bezugspunkt zeitgenössischer Theorie von Tanz, Performance und darstellender Kultur geworden. Seit den Anfängen seiner anthropologischen, dramaturgischen und performancetheoretischen Studien in den frühen 1990er Jahren hat André Lepecki immer wieder Impulse gegeben, wie die Komplexität darstellerischer und bewegungsbasierter Phänomene im kulturellen Gesamtzusammenhang gesehen, wie sie adäquat betrachtet, verstanden, interpretiert und weiterentwickelt werden können.
Zugleich hatte sich Lepeckis »choreographisches Denken« auf einem unübersichtlichen Terrain bewegt: Vorträge, Lecture-Demonstrations, dramaturgische Notizen, Rezensionen und journalistische Essays, später dann auch kuratorische Setzungen, Sammelbände und performative Arbeiten schöpften stets aus der Fülle aktueller Tendenzen und Praxisformen, schienen sich aber nur beiläufig und gleichsam am Rande zu einer »Theorie« zu fügen. Lepecki kultivierte eine Form des signifikant Fragmentarischen, des Unsteten und Nomadischen. Zwischen New York City, der portugiesischen Tanzszene, seinem Geburtsland Brasilien und den europäischen Zentren der Tanzkultur war sein intellektueller Input gleichsam Inbegriff jener »allgemeinen Mobilmachung«, wie sie das Milieu der zeitgenössischen (Performance-)Kunst auszeichnet.
Im Rahmen eines Seminars, das er 2003 während des Festivals Tanz im August in Berlin abgehalten hat, sah ich ihn das erste Mal live; bis dahin hatte ich seine Essays übersetzt, seine dramaturgischen Arbeiten gesehen, seine Publikationen studiert. Diese direkte Begegnung mit Lepeckis Denken und den darin aufgehobenen Bewegungen war aufschlussreich; und zwar nicht nur wegen der unaufgeregten Klarheit seiner Sprache, der Breite seiner philosophischen Referenzen und der Aktualität der choreographischen Beispiele. Sondern diese Begegnung war aufschlussreich, weil die diskursive Natur und Substanz seiner Ausführungen stets über das bloß körperliche Konzept von Bewegung hinausging. Literaturtheorie, Postkolonialismus, Dekonstruktion und Metaphysik verschmolzen zu einer eigenen analytischen Form, die gleichzeitig sich dem Gegenstand anschmiegt und intellektuell innovativ bleibt.
Indem Lepecki die sozialen, diskursiven, anthropologischen und akademischen Komplementärphänomene von Bewegung aufspürt und zum Verständnis des dargebotenen Einzelphänomens heranzieht, entwirft er eine Art politischer Hermeneutik von Bewegung. Es ist eine Hermeneutik, die die zirkulären Prozesse des Verstehens aus dem ästhetischen Bereich hinausholt und die ganze Breite ontologischer, kolonialistischer, transzendentaler und metaphysischer Inhalte freilegt, welche mit dem Problemfeld Tanz/Performance/Bewegung zusammenhängen. Aber sie lassen sich eben nicht auf »die Kunst« beschränken.
Aus diesem Grunde ist gerade eine von Tanz und Performance ausgehende Theoriebildung zentral zum Verständnis zeitgenössischer Kultur. In Exhausting Dance. Performance and the politics of movement fasst André Lepecki seine theoretische Arbeit zusammen und bündelt sie zu einer akademisch gebotenen Abhandlung samt zeitgenössischer Quellenkunde. Die entscheidenden Ansätze mögen vielen Kennern der Materie aus Lepeckis bisherigem Wirken vertraut sein.
Die genaue Herleitung, Ausarbeitung und Fundierung nach den Regeln der Schriftkultur macht den Rang vorliegender Publikation aus. Mit Option Tanz. Performance und die Politik der Bewegung sind André Lepeckis Denkstrategien nun endlich auch in deutscher Sprache nachhaltig zugänglich.
Franz Anton Cramer
Berlin, im Frühjahr 2008