Auftritt
Bern: Mit Schmerz und Würde
Konzert Theater Bern: „Das Missverständnis“ von Albert Camus. Regie Claudia Meyer, Bühne Konstantina Dacheva, Kostüme Barbara Kurth
von Harald Müller
Erschienen in: Theater der Zeit: Bye, Bye, Europe (02/2019)
Assoziationen: Bühnen Bern
Bern unmittelbar vor Weihnachten. Die Stadt gleicht einer Mall, in der einen ständig jemand anbrüllt. Zerstreuung ist das Prinzip. Nirgendwo ein Augenblick der Ruhe, keine Möglichkeit der Konzentration, der Versenkung. Wirklich? Am Stadtrand, in einem unwirklichen Industriegebiet, findet die Premiere von Albert Camus’ „Das Missverständnis“ statt. Es wird ein Abend des Gegenglücks.
In der westeuropäischen Nachkriegszeit und in den fünfziger Jahren war Camus eine wichtige Stimme des ethisch getönten Existenzialismus, der das absurde, mechanisierte, unfreie Dasein erst erlöst und sinnvoll sieht, wenn der Einzelne sich erhebt gegen eine existenzielle Bedrohung – und auch im Untergang eine positive Gegenkraft in die Welt setzt. Eine bereits damals mit seinem Aufstieg einhergehende Kritik, „weißes Schreiben“ zu produzieren und die Figur des Sisyphos als hermetischen Panzer jenseits konkreter, auch eingreifender Handlung zu behaupten, führte zuletzt, da die Welt, besonders die französische, immer schneller aus den Fugen geriet, zu einer Neubefragung, die in Frankreich eine große Grundsätzlichkeit erlangte und bis nach Deutschland und wie hier in die Schweiz übersprang.
Die Geschichte kann düsterer kaum sein. Ein Mann kehrt nach zwanzig Jahren in seinen Heimatort zurück. Dort führen seine Mutter (Heidi Maria Glössner) und seine Schwester (Irina Wrona) ein Gasthaus, in dem sie gutsituierte Gäste ausrauben und ermorden. Sie erkennen in dem Heimkehrer (Nico Delpy) aber nicht den Sohn und Bruder, wie auch dieser sich zunächst nicht zu erkennen geben will – was ihn das Leben, Mutter und Schwester das Lebensglück kosten wird. Anders als jüngst Jürgen Kruse im Deutschen Theater in Berlin, der das Stück verjuxte, auch anders als Nikolaus Habjan in Graz, der die Vorlage verzwergte, verweigert der Abend in Bern ironische Verhunzung wie alle Arten zeitgenössischen Klamauks und präsentiert sich als ein total auf das Wort gestellter, zwangsläufig enigmatisch wirkender Abend von hohem Kunstanspruch. Der erste Teil spielt in einem engen, expressiv ausgeleuchteten Hotelzimmer, in dessen Wänden, Decke und Boden tiefe Risse klaffen, die sukzessive immer größer werden. Die Regisseurin Claudia Meyer nimmt sich viel Zeit mit der Geschichte, und diese Bedachtsamkeit gibt sie auch ihren Spielern mit auf den Weg: fordert diese heraus, auf Einfälle zu verzichten, stattdessen, aus der Ruhe kommend, die Form zu finden, die die Lesart verdeutlicht. Denn wir haben es hier mit keinem Missverständnis zu tun, es ist eine Tragödie, die zu entfalten wie auszuhalten ist. In langen, fast schwerelos wirkenden Szenen sehen wir Figuren, die sich selbst suspekt zu sein scheinen. Im Resultat erleben wir stille Archetypen menschlichen Verhaltens, denen das Private ebenso ausgetrieben wurde wie den Spielern das Mätzchenhafte. Nico Delpy als der ahnungslose Sohn hat nur kurz Gelegenheit, sein prägnantselbstbewusstes Spiel zur Geltung zu bringen, da ist er auch schon hin. Man hätte ihn in seiner sinnlichen Körperlichkeit gerne länger gesehen. Die Figur der Schwester, gespielt von der großartigen Irina Wrona, wird in dieser Lesart zum retardierenden Moment, die mit so wenig Aufwand so viele Gefühlsfacetten, die Sanftheit, das Verlangen, die Skrupellosigkeit und schließlich auch den Schmerz vorführt. Mimisch und gestisch ein Ereignis der Lakonik. Sie und die im zweiten Akt deutlicher werdende Marie Popall als die junge Frau des Getöteten beherrschen die Szene, die im Hades spielt, und steigern sich in ihren beeindruckenden Schmerzensmonologen in eine schonungslose Unausweichlichkeit hinein, die inzwischen selten ist im Theater. Aber notwendig.
Der Abend, so fragil und doch stabil zugleich, plädiert für ein Aushalten der Gegenwart, im Schmerz, mit Würde. Und er gibt in Gestalt eines überdimensionalen Verkehrsschildes, welches nach Dréan hinweist, einen erstaunlich konkreten Hinweis. Es ist der Geburtsort von Albert Camus in Algerien – wo alles begann. //