Herr Ensslin, welche Bedeutung hat Hannah Arendts Leben und Werk für unsere heutige Zeit?
Hannah Arendt ist ein Stachel im Fleisch unserer politischen Gegenwart. Wir verstehen Politik heute oft als Kampfplatz der Interessenvertretung oder greifen zum Megafon, um unsere Bedürfnisse zu artikulieren. Arendt dagegen verstand die griechische Agora, den Marktplatz im Zentrum der Stadt, als einen vorbildhaften politischen Raum. Menschen stellen sich dort durch ihre Handlungen, nicht durch ihr Selbstbild zur Schau, während die Zuschauenden das Gesehene beurteilen. Artikuliert durch die unterschiedlichen Aktivitäten der Menschen, vermitteln Handeln, Urteilen und Denken so eine noch unerhörte, eine noch ungesehene Zukunft.
Wie kann das Theater auf das Theatralische der Politik reagieren?
„Theatralik“ meint im Deutschen so etwas wie „Showmanship“ im Englischen: Gauklerei, das heißt die Schaffung von Evidenz für falsche Tatsachen. Denken Sie aktuell etwa an die Brexit-Debatte, das Phänomen Donald Trump, die AfD und so weiter. Dagegen steht der „Raum der Erscheinung“ für das Verhältnis von Handelnden und Zuschauern. Befreit von der Identifikation mit den eigenen Geschichten, Bedürfnissen und Forderungen, ermöglicht dieser Raum die Einnahme immer neuer Rollen. Am Horizont entsteht so möglicherweise die Gestalt einer anderen Zukunft, eines anderen Gemeinwesens, einer anderen Politik.
Was heißt das für das Theater?
Wie im...