Überlegungen
Rekonstruieren, was uns die Diktatur genommen hat
von Manuel Morgado
Assoziationen: Dossier: Chile
Die Auseinandersetzung mit dem Putsch vor fünfzig Jahren und den Folgen des Putsches war und ist eine Konstante in der chilenischen Theaterlandschaft. Daraus sind zwei wesentliche Tendenzen in der künstlerischen Arbeit hervorgegangen, die mit zwei verschiedenen Generationen Theaterschaffender in Verbindung stehen. Auf der einen Seite ist da eine Generation, die sich stärker dem Erinnern zuwendet und den Schmerz expliziter, beispielsweise anhand konkreter Dokumente oder Berichte, sichtbar machen möchte. Auf der anderen Seite gibt es eine Generation, und der fühle ich mich zugehörig, deren Arbeiten dadurch gekennzeichnet sind, dass sie mit den konventionellen Formen und Gesetzen des Theaters brechen.
Meine Generation versucht sich in theatralen Praktiken, bei denen Erinnerung und Diktatur nicht klar zu fassen sind. Unsere Inszenierungen sind fragmentarischer, weisen stärkere (innere) Brüche auf. Textuelle und sprachliche Strukturen geraten ebenso aus den Fugen wie hegemoniale oder vorgegebene Bildwelten.
In unseren Theaterformen und -formaten versuchen wir ständig, einen Körper zu konstruieren, der fragmentiert ist, und aus diesem Grund sind auch die Strukturen fragmentarisch. Außerdem sind wir auf der Suche nach einem geisterhaften, inexistenten Bild, denn Verschwinden und Verschwundene sind in der chilenischen Gesellschaft stets präsent. Daher arbeiten wir eher von der Abstraktion und vom Symbolischen ausgehend als von der Erinnerung.
Erinnerungen werden zu Inszenierungen. Und in diesen Inszenierungen, in diesem Zusammenspiel verschiedener theatraler Mittel entstehen Zeichen in Form von Chören, Choreographien und Trugbildern von Verlorengegangenem; es sind höchst subversive Bilder, die als Überbleibsel oder Spur von etwas verstanden werden können, das nicht mehr existiert, von etwas, das im Laufe der Geschichte plötzlich verschwunden ist. Gegenwärtig versuche ich im Rahmen meiner Arbeit ein ursprüngliches Bild zu finden, das vermeintlich verloren gegangen ist, ein Bild, das gestohlen oder verändert wurde. Und ich glaube, dass aus dieser Suche, während ich Theater schreibe, ein leerer Raum voller Geister wird, deren Echo auf gespenstischen Bühnen widerhallt.
Darüber hinaus trage ich meine praktische Arbeit in die Ausbildungsräume zukünftiger Theaterschaffender und stelle fest, dass auch sie viel eher am Bild interessiert sind, an der Interpretation der evokativsten und irrationalsten Zeichen und Zusammenhänge in den darstellenden Künsten als an der konkreten Welt der Texte. Dieses Interesse verdeutlicht, dass die Suche der heutigen Zeit nach (der eigenen) Identität den Blick auf die Diktatur als Akt der Gewalt schärft, und als Entwendung der Identität.
Übersetzung Luisa Donnerberg
Erschienen am 29.9.2023