Ödipus Tyrann
Erschienen in: Recherchen 12: Das Politische Schreiben – Essays zu Theatertexten (10/2012)
Müllers ÖDIPUS TYRANN nach Hölderlins Sophokles-Übersetzung ist äußerlich mit den Antikebearbeitungen PHILOKTET und HORATIER durch den Ödipus-Kommentar verbunden, in dem Müller seine Deutung des Ödipus-Stoffes formuliert. Der Kommentar wurde in der Rotbuchausgabe zwischen diesen beiden Texten abgedruckt, so wie auch die Ödipusbearbeitung selbst entstehungsgeschichtlich (1965) zwischen ihnen liegt. Da PHILOKTET und HORATIER als Lehrstücke/Tragödien über das Problem Stalin gelesen werden können, stellt sich die Frage, ob auch die Bearbeitung der Tragödie des Rätsellösers Ödipus in Zusammenhang steht mit diesem Thema, das zur zentralen Frage des modernen Marxismus geworden ist, weil Theorie und Praxis des Kommunismus mit Stalin so weit auseinanderbrechen, dass das Vertrauen in ihre mögliche Einheit von Grund auf erschüttert ist.
Praktisch Zeile für Zeile folgt Müller Hölderlins Übertragung. Dennoch deutet er durch nur scheinbar geringfügige Änderungen die Vorlage in ganz spezifischer Weise. Anlässlich der Ost-Berliner Aufführung von ÖDIPUS TYRANN erklärte Müller:
»Gegen die gewohnte Interpretation lese ich ÖDIPUS TYRANN nicht als Kriminalstück. Das wäre mit der Aussage des Teiresias am Ende. Für Sophokles ist Wahrheit nur als Wirklichkeit, wissen nicht ohne Weisheit im Gebrauch; der Dualismus Praxis Theorie entsteht erst; seine blutige Geburt beschreibt das Stück, seine radikalste...