Theater der Zeit

I. Schauspielen

Zur Anthropologie des Schauspielers

Quelle 4

von Helmuth Plessner

Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)

Assoziationen: Schauspiel

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Daß sich die philosophische Anthropologie einmal mit dem Schauspieler beschäftigt, mag auf den ersten Blick befremden. Befremdlicher ist die Tatsache, daß sie es bisher meistens unterlassen hat.1 Der Schauspieler stellt Menschen dar. Ein Mensch verkörpert einen anderen. Nirgends sonst wird uns das gezeigt. Dichtung und bildende Kunst verkörpern „auf Umwegen“ und „im Abstand“, in Wort, Farbe und Form, nicht in Menschen selbst. Im täglichen Leben begegnen wir dem Menschen, „wie er ist“, ungeschminkt und unverstellt. Ohne Zweifel bildet solche unvermittelte Zugänglichkeit in den Augen der Anthropologie einen methodisch nicht zu unterschätzenden Vorzug, da sie wissen will, wie und was der Mensch ist. Die Situation des Schauspielers ist immerhin eine komplizierte, in sich reflektierte Einheit, in der die verkörperte Person der Rolle die verkörpernde Person des Schauspielers überdeckt. Herr X. als Othello und Frau Y. als Desdemona sind Personen der Vorstellung und gehören, nimmt man den Ausdruck beim Wort, dem Reich der Phantasie an. Othello und Desdemona sind Bilder, die eine Wirklichkeit bedeuten, zwischen die wirklichen Theaterbesucher und die wirklichen Schauspieler geschoben, Bilder einer imaginären Welt, die der Wirklichkeit gleicht, aber sie selbst nicht ist. Die Anthropologie will das Menschenwesen in seiner vollen Wirklichkeit studieren. Muß sie sich dazu eine Situation aussuchen, in welcher der Blick auf die Wirklichkeit durch Bilder verschleiert wird, durch Bilder nota bene, die diese Wirklichkeit produziert?

In der Tat nota bene: diese Bilder stellen Menschen dar von Fleisch und Blut, von Geist und Herz. Sie existieren nicht als farbige Figuren auf einer Fläche, auch nicht als lebende Bilder und bewegte Skulpturen. Sie sind von Menschen verkörperte und bedeutete Menschen. Othello und Desdemona |51|leben nicht mehr und nicht weniger wie X und Y in ihrer Privatexistenz, in der Sorgen um Engagement und Gage vielleicht größeren Raum einnehmen als Liebe und Eifersucht, durchschnittlich, verglichen mit dem Schicksal, an dem ihre Verkörperung sie selbst und die Zuschauer teilnehmen läßt. Menschen, fertige Charaktere werden hingestellt. Menschen lösen sich von sich ab, verwandeln sich in andere. Sie spielen ein anderes Sein. Bietet diese Situation nicht doch auch besondere Vorteile für die anthropologische Erkenntnis? Ist es nicht gerade methodisch von unschätzbarem Wert, daß die menschliche Existenz sich hier bis auf den Grund durchsichtig macht, indem sie sich verwandelnd selbst schöpft? Ist es nicht zumindest der Mühe wert, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen? Wenn sich die anthropologische Analyse an die Auslegung hält, welche der Mensch von sich selbst gibt, indem er von sich und anderen und von der Welt spricht, handelt, urteilt, bildet; zu sich, zur Gesellschaft, zu Natur und Gott ein Verhältnis findet; warum soll sie dann, ja wie darf sie dann an einem Verhalten vorübergehen, das menschliches Sein selber gestaltet?

1. Entwicklungsphasen

Wenn es richtig ist, daß das Schauspiel ursprünglich zum kultischen Handeln gehört, das Drama sich aus der heiligen Handlung entwickelt hat, so wird seine Emanzipation und endgültige Verweltlichung, die auf der modernen Schaubühne und im Film erreicht ist, an dem Schauspieler, als dem Träger der Handlung, nicht spurlos vorübergegangen sein. Figur und Funktion des Darstellers richten sich nach dem Ziel, dem Inhalt und der Form der Aufführung. Der uns vertraute Schauspielertyp ist ein Kind der Literatur, das Lieblingskind ihrer bürgerlichen Epoche, der berufene Dolmetscher des frei schaffenden Bühnendichters. Er allein verwirklicht den Willen des Dichters, geführt, bisweilen gegängelt vom Regisseur. Seiner Auffassung der Rolle sind durch die Deutlichkeit der dichterischen Absicht und den Zeitgeschmack Grenzen gezogen, aber innerhalb ihrer ist Raum genug für die Originalität und Unwiderstehlichkeit persönlicher Verkörperung. Entscheidend bleibt der Rückhalt an der Rolle, in der seine Individualität sich entfaltet und zugleich verschwindet. Die Verwandlung bleibt durch die Persönlichkeit getragen.

|52|So war es in den Anfängen des kultischen Spieles nicht: „Die Priester oder sonstigen Darsteller sind eben nur Darsteller der heiligen Macht … Nur so wird verständlich, daß das Kostüm und die Maske im kultischen Handeln unentbehrlich sind … Die Maske macht den kultisch Handelnden zum Vertreter. In den Maskentänzen so mancher primitiver Völker re-präsentieren die Tänzer im buchstäblichen Sinne die Dämonen oder Götter und das Ereignis, das vorgeführt wird … sie sind die Geister oder Dämonen, und das Ereignis findet wiederum statt.“2 Als Stellvertreter verschwinden die Menschen hinter dem in Maske und zeremoniöser Bewegung festgelegten Schauspiel, dessen Rollen keine Rücksicht auf Individualitäten nehmen, dessen Autor und Aktor der Gott ist. Ihr Handeln ist rituelle Wiederholung. Anonymität und Bewegungsvorschrift beherrschen die Szene.

Sie lockerte sich im Zuge der Entstehung und Ausbildung eines von Dichtern geschaffenen dramatischen Textes. Die Maske fiel, und langsam trat der Schauspieler mit seiner Person in die Verwandlung ein. Freilich blieben noch lange gewisse Typen respektiert, nicht nur weil die Konvention das Hochkommen frei erfundener Typen oder neuer Auffassung traditioneller Rollen verbot, sondern auch weil das Publikum die gleiche Figur immer wieder sehen wollte wie die Kinder den Kasperl oder den Teufel im Puppentheater. Der Befreiung von der Übergewalt der Tradition im gesellschaftlichen Leben mußte schließlich auch die Schaubühne folgen und an die schöpferischen Verwandlungsmöglichkeiten des Darstellers appellieren. Doch erreichte der Naturalismus des modernen Problemstücks mit seiner psychologischen Vertiefung und seinem Ideal von Lebenswahrheit noch nicht den Höhepunkt dieser Emanzipation des Schauspielers. Er blieb schließlich auch hier an die Rolle gebunden. Der hochgestimmte Deklamationsstil des klassischen Dramas war „überwunden“, die Natürlichkeit des Vortrags und der Gesten suchte den Abstand zwischen Bühne und Zuschauer zu verleugnen, noch nicht aber das In-einer-Rolle-Sein, das Spiegelverhältnis des Darstellers zum Zuschauer selbst.

[…]

|53|2. Verkörperung

Zwischen dem anonymen Maskentänzer, dessen Bewegungen den Vorschriften der kultischen Handlung entsprechen und nicht expressiv sein wollen, sondern erzählen und Expressivität durch Mitteilung eines Vorgangs erreichen, und dem Filmstar, der sich selbst spielt, auf dem Hintergrund einer Rolle, liegt eine Welt. Doch zeigen beide, wenn auch in ganz verschiedene Richtungen weisende Möglichkeiten eines und desselben Verhaltens, die Verkörperung einer Figur mit dem eigenen Leibe. Darstellung in objektivem Material von Farben, Formen, Stoffen, Worten und Klängen mag dann prinzipiell von der Darstellung des Schauspielers nicht abweichen, und gewisse ästhetische Gesetze haben sie sicher gemeinsam, doch verrät die Darstellung im Material der eigenen Existenz eine Abständigkeit des Menschen zu sich, über deren Umfang und Art man sich in der Anthropologie weniger Gedanken macht als in der Ästhetik über ihre Konsequenzen. Man vergißt, daß die „Selbstbeherrschung“, welche das tägliche Leben vom Menschen fordert, die Beherrschung der Rolle, die er in ihm spielt, die Verwandlungs- und Verstellungsfähigkeit, welche Umgang und Beruf einem jeden mehr oder weniger aufzwingen, beim Darsteller auf das Bild gerichtet sind, das er für den Zuschauer sein will. In der normalen Hingegebenheit an irgendeine Beschäftigung kann der Mensch, ja muß er sich vergessen. Nur das Stück seiner selbst, das für die Durchführung seiner Absichten als Mittel besonderer Beherrschung und Pflege bedarf, macht er sich bewußt, spaltet er von sich ab. Beim Schauspieler umfaßt dieses Stück ihn selbst, als Leib und Seele. Er selbst ist sein eigenes Mitleid, d. h. er spaltet sich selbst in sich selbst, bleibt aber, um im Bilde zu bleiben, diesseits des Spaltes, hinter der Figur, die er verkörpert, stehen. Er darf der Aufspaltung nicht verfallen, wie etwa der Hysteriker oder der Schizophrene, sondern er muß mit der Kontrolle über die bildhafte Verkörperung den Abstand zu ihr wahren. Nur in solchem Abstand spielt er.

Begreiflicherweise führt der Zuschauer die Ausdrucksmächtigkeit des Darstellers auf die Intensität seines Gefühls zurück, dem das Ausdrucksbild entspricht, vergißt aber dabei, daß hinter diesem Bild – auch dann, wenn unmittelbare Natürlichkeit erstrebt wird – nicht das Gefühl, sondern die bildnerische Absicht des Schauspielers steht, der sich mit einer Figur in |54|einer bestimmten Situation identifiziert, aber sie nicht einfach ist. Auch der Darsteller-Interpret einer Rolle, auch der Filmspieler bleibt Repräsentant, bleibt Träger einer Maske. Der Unterschied zum anonymen Maskentänzer der „Primitiven“ liegt nur darin, daß seine Maske nicht aus Holz, sondern sein eigener Körper ist. Mit dem Fortfall der künstlerischen Maske wird der Leib selbst zum Kunstmittel. Der Darsteller bleibt hinter seinem eigenen Aussehen genauso verborgen wie der kultische Tänzer. Nur mischt er in das Bild der Rolle seine eigene Individualität oder durchtränkt die eigene Individualität mit dem Bild einer Rolle. Gut ist der Darsteller nicht darum, weil im gegebenen Augenblick seine Gefühle echt sind und er das und das wirklich erlebt, was den Handlungen seiner Rollenfigur entspricht, sondern weil er durch seine Gesten, seine Mimik, seine Stimme imstande ist, für sich und andere jene Illusion der Tiefe zu erzeugen, welcher die Handlungen entsprechen.

Man darf die schauspielerische Gestaltung nicht in das Schema einer Alternative: von innen nach außen oder von außen nach innen zwängen. Beide Wege stehen ihr offen und sind zueinander komplementär. Auf beiden Wegen kann die Bildgestaltung entgleisen. Die Geste, eine Spur zu spät, zu übertrieben, wirkt leer und mechanisch, wenn sie sich nicht in das Bild fügt. Das stärkste Gefühl teilt sich nicht mit, wenn es die Darstellungsfläche des Tonfalls und der Bewegung nicht erreicht. Wie der Zeichner und Maler die Umwege beherrschen muß, welche ihm die Mittel der Linie und Farbe, die Aufteilung einer begrenzten Fläche vorschreiben und ihn zu einer Verkürzung, zu einer Verdichtung ins Wesentliche drängen, von der die Erweckung der Illusion des Gesehenen, des in dem optischen Datum Gemeinten abhängt, so muß auch der Darsteller um die Bildkomposition bemüht sein, der er den Tonfall seiner Stimme, seinen Gang, seine Gesten, seinen Blick zur Verfügung stellt. Eine wirkliche Aufwallung, ein echtes Gefühl kann ihm dabei helfen, den echten Ausdruck zu finden, hat aber nur dann Wert, wenn sie dem Darsteller wirklich zu Gebote steht. Er ist nur, wenn er sich hat.

Mit solchen Feststellungen ist nicht für einen besonderen Darstellungsstil Partei ergriffen, sondern allein die schauspielerische Situation getroffen. Der expressive, ganz in der Aktion aufgehende, ausdrucksmäßige, selbst der übersteigerte Stil gehört mit dem Stil der vollkommenen Natürlichkeit, |55|Nüchternheit, Trockenheit und Selbstverständlichkeit zu jener Form der Darstellung, welche den Darsteller als den Produzenten der Illusion gewissermaßen überspringt und von der Bildfläche verdrängt. Ihr sind die Stile der klassischen Deklamation, der Commedia dell’arte, aber auch gewisse persönliche Formen einer Schauspielkunst, die mit sich selbst spielt, sich selber zuhört (u. U. zur Improvisation übergeht) oder aber in der entgegengesetzten Richtung die Objektivität des Rollenbildes bis zur Marionettenhaftigkeit steigert, als Formen einer den Darsteller in das Bild mit einbeziehenden Darstellung entgegengesetzt. Sie alle sind wahr, eine jede auf ihre Weise. Keine hat vor der anderen den Vorrang an Echtheit, Größe, Eindringlichkeit oder Schönheit. In jeder manifestiert sich der Mensch auf eine zugleich unmittelbare und vermittelte, natürliche und künstliche Weise. Darum sagen sie uns in einem etwas über den Schauspieler und seine Kunst und über die menschliche Natur, deren Darstellungsfähigkeit als Gabe der Verkörperung im Schauspieler gesteigert hervortritt, als Darstellbarkeit menschlichen Seins durch die Verkörperung sichtbar wird.

3. Bildentwurf

Natürlich steht es frei, den Schauspieler als Subjekt von der Figur, die er spielt, als Objekt zu unterscheiden, falls man sich bei dieser Unterscheidung nur der Tatsache bewußt bleibt, daß dieses Objekt ein Subjekt sein soll, mit dem er sich während des Spiels identifiziert. Dieser Identifikation geht beim künstlerischen Darsteller ein besonderer Bildentwurf voraus, dem er in seiner Verkörperung sich angleicht. Sein Spiel beruht auf der hierfür geforderten Abspaltung eines Selbst, das er in der Rolle zu sein hat, einer Abspaltung, die ihm, wie die soeben kurz angedeuteten Stilformen beweisen, auf sehr verschiedene Weise möglich ist. Wie kommt es, daß dieser künstliche Vorgang, dessen Schwierigkeiten der Textwiedergabe, des Sprechens, der guten Koordination zwischen Sprechen und Bewegung, vom Bildentwurf noch ganz zu schweigen, bekannt sind, zu einem Ergebnis führen kann, das – einerlei ob man seine Natürlichkeit, Echtheit, Größe, Eindringlichkeit oder Schönheit rühmt – die Illusion einer Menschlichkeit uns vor Augen stellt? Anders gefragt: wäre es dem Menschen möglich, in einer ihm vorgespielten Figur „sich“, eine Seite, eine Möglichkeit von sich, einen |56|Menschen im Lichte einer Idee wiederzuerkennen, wäre es ihm möglich, die Figur auf die Beine zu stellen, wenn er nicht von Natur bereits „etwas vom“ Schauspieler in sich hätte? Muß er nicht auch in dieser Hinsicht das schon sein, zu dem er sich macht? Enthüllt der Schauspieler nicht, wenn sein Darstellungsbereich der Möglichkeit nach unbegrenzt ist, jedenfalls in einer besonderen Hinsicht die menschliche Konfiguration?

Hier wird ein Mensch durch eine Figur zum Leben erweckt, nicht mit einer bloßen Figur an ihn erinnert. Darin liegt gerade der Reiz des Schattenspiels, des Puppen- und Marionettentheaters, des Zeichenfilms nicht zu vergessen, daß es bloße Figuren als Stellvertreter von Menschen zeigt, Repräsentanten von allem, was auf, über und unter der Erde ist. Die Repräsentation, erschwert durch den Abstand der Figur zu dem, was sie vorstellt, und insofern wieder erleichtert, als die Augenscheinlichkeit des wirklichen Menschen wegfällt, spielt hier über einen besonders großen Abstand hinweg zugleich mit dem Abstand. Kein Wunder, daß diesem Appell an die Einbildungskraft Kinder und „Primitive“ leichter folgen als die ernüchterten Realisten unserer Zivilisation. Zudem sind Puppen und Marionetten den Figuren des sakralen Maskenspiels verwandt, ihr genau festgelegter Ablauf hat im Mechanismus der von außen bewegten Figuren seine verwandte Ausdrucksform. Tritt jetzt der wirkliche Mensch in der Rolle eines Menschen oder menschenähnlichen Wesens auf die Bühne, dann verändert sich zwar die Situation für den Zuschauer insofern, als ihm die Illusion der Verwandlung erleichtert, der Abstand der Figur zu dem, was sie vorstellt, verringert wird. Aber er hat, obwohl in dieser Hinsicht erschwert, noch stets den Zugang, wenn man will: die Rückgangsmöglichkeit zu der in der Verkörperung gezeigten Figur. Indem sich die Augenscheinlichkeit eines wirklichen Darstellers, der eine wirkliche Person spielt, zwischen den Zuschauer und die dargestellte Person schiebt, wird der scheinbar verringerte, im Grenzfall des Filmstars vernichtete Abstand zur Figur wiederhergestellt, freilich nur in den Menschen selbst verlegt und als das Verhältnis des Menschen zu sich selbst entdeckt.

Als das Verhältnis seiner selbst zu sich selbst ist er die Person seiner Rolle, für sich und für den Zuschauer. In dieser Verhältnismäßigkeit wiederholen Spieler und Zuschauer jedoch nur die Abständigkeit des Menschen |57|zu sich und zu einander, die ihr tägliches Leben durchdringt, eine Abständigkeit allerdings, die – verführt sie auch zum Spiel und behält sie auch latent Spielcharakter – die Basis seines Ernstes bildet. Denn was ist schließlich dieser Ernst der Alltäglichkeit anderes als das Sich-einer-Rolle-verpflichtet-Wissen, welche wir in der Gesellschaft spielen wollen? Freilich will dieses Spiel nicht darstellen, es kennt nur Mit-Spieler, d. h. Mit-Menschen, und die Last des Bildentwurfs für unsere soziale Rolle ist uns durch die Tradition, in die wir hineingeboren werden, abgenommen. Trotzdem müssen wir, als virtuelle Zuschauer unserer selbst und der Welt, die Welt als Szene sehen. Der Dichter tut es, der Philosoph, der Historiker, der Soziologe und wer immer sich mit dem Menschen als Phänomen auseinandersetzt.

Die unverbrüchliche Einheit von Sein und Auffassung des Seins in der Rolle einer menschlichen Lebensführung fordert vom Menschen Einfügung in einen sinnvollen Zusammenhang. Er bestimmt einem jeden Platz, Funktion und „Ansehen“ in und für die Gesellschaft. […]

Von der schauspielerischen Aktion her verstehen wir menschliches Leben schließlich als Verkörperung einer Rolle nach einem mehr oder weniger feststehenden Bildentwurf, der in repräsentativen Lagen bewußt durchgehalten werden muß. Nicht jeder wird das Zeug dazu in sich fühlen, nicht immer sind derartige Qualitäten am Platze. Doch gehören sie zweifellos zu den Bedingungen menschlicher Existenz. Sie weisen nämlich zugleich auf jenen anderen Aspekt ihrer Abständigkeit zu sich, der von sozialem Rang und sozialer Funktion weitgehend unabhängig ist, den Aspekt der Nachahmung und Verstellung. Man bringt ihn zu Unrecht mit Tücke und Hinterhältigkeit, mit Falschheit und Unechtheit in einen notwendigen Zusammenhang. Mauvaise foi kann Anlaß zur Verstellung sein und beherrscht vielfach das menschliche Verhalten im diplomatischen Verkehr. Aber mit verstellter Stimme Sprechen, ohne schlechte Absichten, gehört auch in den Bereich des „anders Scheinen, als man ist“: man will dann die Haltung eines Anderen annehmen, jemanden nachahmen. Die Nachahmung, nicht jedem in gleicher Weise verfügbar, weist auf eine Bildbedingtheit der Äußerungsmöglichkeiten, welche den Nachahmenden innerlich mit umformen. Er wird durch seine veränderte Haltung ein Anderer. Abgesehen von den mimisch-imitatorischen Darbietungen, die der schauspielerischen |58|Aktion verwandt sind und zur Erheiterung beitragen, sind hier besonders diejenigen nachahmenden Angleichungen an einen bestimmten Lebensstil aufschlußreich, der im Zeichen der Nachfolge eines Vorbilds von einer Gefolgschaft gefordert wird. Das religiöse, kriegerische, staatliche Leben bietet hierfür viele und mächtige Beispiele. Freilich ist dann von Verstellung keine Rede mehr. Hier empfängt der Mensch Richtung und Form aus einem Vorbild. Er bildet sich ihm nach. Er wird durch den Anderen er selbst. Seine Gedanken und Gefühle sind die Gedanken und Gefühle seines Ordens, seines Korps, seines Standes, seines Landes, seiner Klasse, seines Gottes, Vorbilds und Führers, doch darum nicht weniger echt und ihm eigen. In der Rolle des Abbilds geht er auf, Identifikation, Einswerdung mit ihm wird erstrebt.

Alle derartigen Erscheinungen des menschlichen Verhaltens muß man sich vor Augen führen, um in der schauspielerischen Aktion typische Bedingungen menschlichen Daseins wiederzufinden, mit denen der Darsteller spielt. Sein Spiel macht sie uns bewußt, analysiert sie in der Schöpfung der Figur, die er auf die Bühne bringt, und gewinnt damit die Bedeutung eines anthropologischen Experiments. Daß seine Verkörperung künstlerischen Forderungen wie jede Darstellung zu gehorchen hat, daß die Schwierigkeiten des Textes, des Sprechens, der Koordination zwischen Sprechen und Bewegung nicht fühlbar werden dürfen und der Bildentwurf, dem die Figur in allen ihren Äußerungen folgt, originell oder traditionell, überzeugend oder gewollt, echt oder gemacht, übertrieben oder unauffällig, überladen oder einfach und was nicht alles noch sein kann, in jedem Falle aber beherrscht, gekonnt und zwingend sein muß, will er ästhetisches Niveau erreichen, dafür ist der Schauspieler als Darsteller und schöpferische Persönlichkeit verantwortlich. Dafür gibt es auch keine Regeln, es sei denn negative der Vermeidung aller möglichen Fehler, ganz wie in den Künsten überhaupt. Auch für ihn gilt der Satz Liebermanns: Zeichnen ist Weglassen. Was aber wegzulassen ist, wie die Geste sein muß, um im Zwang des Augenblicks frei, überzeugend, ergreifend wirken zu können, das bleibt in letzter Linie dem bildschöpferischen Können des Darstellers anheimgegeben.

Jedoch übernimmt der Schauspieler, ob gut oder schlecht, in jedem Fall die Aufgabe, seiner Rolle eigene Figur zu sein. In dieser extremen Möglichkeit, |59|zu der das Leben in Ausnahmen und festlicherweise Gelegenheit bietet und nur die Träger seiner großen Rollen, zur Hauptsache den Priester und den Herrscher, befugt, wird der Menschendarsteller zum Repräsentanten menschlicher Würde. Der Menschheit Würde ist in seine Hand gegeben. Aber diese Würde hat ihre Wurzel nicht allein in der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott, sondern ebensosehr in dem mit der Abständigkeit zu sich gegebenen Abstand zu ihm. Würde besitzt allein die gebrochene Stärke, die zwischen Macht und Ohnmacht gespannte zerbrechliche Lebensform. Ihre Überlegenheit über das bloße Leben, die in ihren geistigen Äußerungen vernehmbar wird, erkauft sie mit Hemmung und Unterlegenheit im bloßen Leben. So erweist sich in Kleists Erzählung Über das Marionettentheater der Bär dem Fechter überlegen. Mit der Entdeckung seiner selbst, diesem Über-sich-selbst-hinaus-Sein, dieser fatalen présence à soi hat der Mensch seine Freiheit gewonnen und die ungebrochene Sicherheit seiner Animalität verloren. Zwischen Natur und Gott, zwischen dem, was kein Selbst ist, und dem, was ganz Selbst ist, steht der Mensch, der sein Selbst sich präsentiert. Er besitzt weder die ungehemmte Präzision der Marionette bzw. die Instinktsicherheit des Tieres noch die vollkommene Ursprünglichkeit unfehlbarer Verwirklichung.

Er ist gebrochene Ursprünglichkeit, die nicht über sich selbst verfügt. Er fällt nicht mit dem zusammen, was er ist: dieser Körper, dieses Temperament, diese Begabung, dieser Charakter, insofern als er sie, sich von ihnen distanzierend, als dieses ihm gegebene Sein erkennt. Sie sind ihm zugefallen und ihrer Zufälligkeit bleibt er sich bewußt, ob er nun ihrer Herr wird oder nicht. Das, was er hat, hat er zu sein – oder nicht zu sein.

 

Helmuth Plessner: „Zur Anthropologie des Schauspielers“, in: ders.: Ausdruck und menschliche Natur, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, S. 403 – 417 (Erstveröffentlichung1948)

 

Helmuth Plessner (1892 – 1985), deutscher Philosoph, Soziologe und zentraler Vertreter der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert. Er lehrte an den Universitäten Köln, Groningen und Göttingen.

1

Wertvoll für die Problematik sind Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928) mit einem Anhang über Pirandello, Jürg Zutt, Die innere Haltung. Mschr. für Psychiatrie und Neurologie (1929), Hans Kunz, Die anthropologische Bedeutung der Phantasie (1946), J. P. Sartre, L’imaginaire (1938; dt. Das Imaginäre, 1971) und L’être et le Néant (1944) dt. Das Sein und das Nichts, 1962), D. J. van Lennep, Het wezen van de projectie, Diss. Utrecht 1948. Ferner die Arbeiten von Huizinga, Buytendijk und Bally über das Spiel.

2

G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 1933, S. 350. Vgl. ferner desselben Autors Wegen en Grenzen, 1932. Zur Entstehung des Dramas H. Reich, Der Mimus,1903.

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