Zur Anthropologie des Schauspielers
Quelle 4
von Helmuth Plessner
Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)
Assoziationen: Schauspiel
Daß sich die philosophische Anthropologie einmal mit dem Schauspieler beschäftigt, mag auf den ersten Blick befremden. Befremdlicher ist die Tatsache, daß sie es bisher meistens unterlassen hat.1 Der Schauspieler stellt Menschen dar. Ein Mensch verkörpert einen anderen. Nirgends sonst wird uns das gezeigt. Dichtung und bildende Kunst verkörpern „auf Umwegen“ und „im Abstand“, in Wort, Farbe und Form, nicht in Menschen selbst. Im täglichen Leben begegnen wir dem Menschen, „wie er ist“, ungeschminkt und unverstellt. Ohne Zweifel bildet solche unvermittelte Zugänglichkeit in den Augen der Anthropologie einen methodisch nicht zu unterschätzenden Vorzug, da sie wissen will, wie und was der Mensch ist. Die Situation des Schauspielers ist immerhin eine komplizierte, in sich reflektierte Einheit, in der die verkörperte Person der Rolle die verkörpernde Person des Schauspielers überdeckt. Herr X. als Othello und Frau Y. als Desdemona sind Personen der Vorstellung und gehören, nimmt man den Ausdruck beim Wort, dem Reich der Phantasie an. Othello und Desdemona sind Bilder, die eine Wirklichkeit bedeuten, zwischen die wirklichen Theaterbesucher und die wirklichen Schauspieler geschoben, Bilder einer imaginären Welt, die der Wirklichkeit gleicht, aber sie selbst nicht ist. Die Anthropologie will das Menschenwesen in seiner vollen Wirklichkeit studieren. Muß sie sich dazu eine...