Essay
Vertrauensspiele
Über die Präsentation des Selbst im Alltag
von Dirk Baecker
Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)
Assoziationen: Debatte
Wir alle spielen Theater?
Einen pedantischen Gelehrten erkennt man unter anderem daran, dass er sich an der Übersetzung eines Buchtitels aufhält und nicht gleich zur Sache kommt, die möglicherweise stattdessen zu verhandeln wäre. Im Fall der Übersetzung von Erving Goffmans Buch „The Presentation of Self in Everyday Life“ (New York 1959) unter dem Titel „Wir alle spielen Theater“ (München 1969) ist jedoch das mit diesem Titel geborene Missverständnis bereits Teil der Sache, die zu verhandeln ist. Der deutsche Titel verkennt die Arbeit am Sozialen, an unseren Rollen, an unserem Selbst, die wir täglich leisten, als ein Spiel, auf das man auch verzichten kann, um so mehr Raum für die Wirklichkeit des Seins anstelle des Glitzers des Scheins zu gewinnen. Und er verkennt das Theater nicht minder als ein Spiel, das unterhält, erfreut, herausfordert und erschreckt, aber mit all dem zwischen drei Wände gebannt ist, die es davor bewahren, etwas mit einer Wirklichkeit zu tun zu haben.
Der deutsche Titel bedient ein bürgerliches Missverständnis, das glaubt, gegen den Schein der Welt des Adels die Aufrichtigkeit und Tugendhaftigkeit eines ehrlichen Lebens einwenden zu können. Und er hält zur Belohnung für die Anstrengungen, die die Arbeit am ehrlichen Alltag bereitet, die Aussicht auf eine lustvolle Unterhaltung bereit, die dieselben Bürger dann abends im Theater erwartet. Der Untertitel, obwohl fast wörtlich aus dem Englischen übernommen, „Die Selbstdarstellung im Alltag“, unterstreicht das Missverständnis, da es mit dem Unterschied einer feinen Nuance so tut, als gäbe es das Selbst bereits, das im Alltag nur dargestellt werden muss (und damit scheitert, weil dieser Alltag es nur „entfremdet“ zum Zuge kommen lässt), während der amerikanische Originaltitel offen lässt, wem oder was dieses Selbst zu verdanken ist.
Der deutsche Titel ist überdies kokett. Er kombiniert die Geste des ultimativen Durchblicks mit der Kühle derer, die glauben, es sich leisten zu können, alle Hoffnung fahren zu lassen. Hatte Jean- Jacques Rousseau noch mit allen Mitteln seiner Rhetorik gegen das Theater, zumindest aber gegen weibliche Schauspieler gekämpft, weil er um den Verlust der Unschuld derer wusste, die einmal auf einer Bühne einem Publikum gegenüberstanden, so ist man 1969 über diesen Stand der Dinge weit hinaus und hält jede Unschuld für ausgeschlossen. Dafür gab und gibt es gute Gründe. Und ohne Zweifel fiele es nicht schwer, die entsprechende Melancholie auch in Goffmans Buch nicht nur zwischen den Zeilen wiederzufinden.
Und doch schoss man mit dem deutschen Titel in intellektuellem Übermut und gnadenloser Übertreibung über das Ziel hinaus. Die Differenz zwischen Sein und Schein ist wesentlich feiner, kapillarer gebaut, als es der Versuch erkennen lässt, zwischen Theater und dem Rest der Welt zu unterscheiden und dann dem Rest der Welt dasselbe Theater zu unterstellen. Goffmans eminent soziologische Analyse legt nicht umsonst den Akzent auf die Präsentation eines Selbst, das mit den Rollen, die es spielt, zwar nicht identisch ist, aber zugleich und paradox von ihnen auch keinen Moment unterschieden werden kann. Das Stichwort der „Präsentation“ deutet die Reserve an: Jedes Selbst bewegt sich in einem Raum, der mit Verweisen auf eine Vergangenheit, auf eine Zukunft, auf die Gleichzeitigkeit anderer Möglichkeiten und damit auf den selektiven Umgang dieses Selbst mit sich selbst in der jeweiligen Situation derart reichhaltig gespickt ist, dass man gar nicht umhinkommt, die Wirklichkeit und damit auch Wahrheit dieses Selbst in Differenz zu seiner Präsentation zu setzen. Aber kann man schon deshalb sagen, dass es sich spielt: dass es Theater spielt? Ist ein Selbst, dem man seine Selektionen ansieht, ein falsches Selbst?
Goffman legt in seinem Buch den Akzent nicht auf den Unterschied zwischen Sein und Schein, Wahrheit und Falschheit, zwischen trügerischem Spiel und authentischer Wirklichkeit, sondern darauf, dass das Selbst nichts anderes ist als diese Fähigkeit (oder Unfähigkeit) zur Selektion, zur Auswahl zwischen seinen Möglichkeiten, zur Entscheidung dessen, worauf es sich einlässt und worauf nicht. Wie die antiken Weisheitslehren der Chinesen und Griechen und wie die moralphilosophische Aufklärung der neuzeitlichen Engländer und Franzosen sieht er das Selbst eines Individuums nicht als Wirklichkeit hinter einer Maske, sondern als Korrelat der vielen Masken, die es aufsetzen und zugunsten anderer Masken auch wieder absetzen kann. Die Moral wächst von außen nach innen, sagt La Rochefoucauld. Lächle, weiß der Schauspieler, und dein Gemüt wird sich aufheitern, weil es von der Mimik, in der es sich zeigt, nicht wirklich zu unterscheiden ist. Trügerisch sind weder das Außen und dessen Verlockungen und Versuchungen noch das Innen und dessen versteckte Absichten, sondern trügerisch ist, dass wir glauben, zwischen diesem Innen und diesem Außen unterscheiden zu können.
Goffmans Annahme ist radikaler, als es sich jede Kulturkritik Rousseau’ schen Musters träumen lässt. Für ihn ist das Theater nicht das Rollenspiel, das sich von der Wirklichkeit des Alltags unterscheiden ließe, sondern für ihn ist das Theater die heuristische Operation, mit der sich die Verhältnisse der Gesellschaft selber auf die Spur kommen, nicht ohne allerdings, das gehört zu diesen Verhältnissen dazu, diese Spuren auch gleich wieder zu verwischen. „The medium is the message“, darf man auch hier mit Marshall McLuhan sagen. Während wir im Theater sitzen und uns blendend unterhalten, langweilen oder faszinieren lassen, ist die eigentliche Botschaft schon längst unterwegs. Kein Mensch spielt Theater, so könnte man sie des Kontrasts zum deutschen Titel des Buches von Goffman halber vielleicht auf den Punkt bringen. Und vor allem spielt das Theater kein Theater.
Mit anderen Worten, ich plädiere für eine Interpretation des deutschen Titels von Goffmans Buch nicht als Tautologie, sondern als Paradoxie. Wir alle spielen Theater, weil kein Mensch Theater spielt, schon gar nicht das Theater. Natürlich kennt auch diese Regel ihre Ausnahmen, für deren Bezeichnung wir jedoch genügend andere Ausdrücke haben: dramatisieren, vorspielen, chargieren. Es sind nur wenige in seltenen Situationen, die Theater spielen; und das kommt in den besten Familien vor, sogar im Theater. Alle anderen haben anderes zu tun.
Der Alltag, auch im Theater
Eine Paradoxie ist immer dann eine fruchtbare Aussage, wenn sie Beobachtungen stoppt, Handlungen jedoch weiterlaufen lässt. Die gestoppten Beobachtungen kommen mit ihren bisherigen Unterscheidungen nicht weiter und müssen sich nach neuen Unterscheidungen umschauen, die beschreiben können, welche Handlungen weiterlaufen, während der Beobachter nicht weiterweiß. Für neue Unterscheidungen gibt es zwei Suchräume. Man kann entweder ausweichen und sich mit anderen Themen beschäftigen, mit den Floskeln der Politiker, dem Geist des Kapitalismus, dem Ruin der Universitäten oder der Unfehlbarkeit des Papstes, oder man kann nach einer Unterscheidung suchen, die in der Lage ist, die Paradoxie zu entfalten, auf die man gestoßen ist. Letzteres ist der Weg der Systemtheorie, meisterhaft vermessen, wie man weiß, von Niklas Luhmann.
Im ersten Suchraum kann man tun, was man will. Allenfalls muss man darauf achten, dass man auch dafür ein Publikum findet. Im zweiten Suchraum ist man eingeschränkter. Man darf die Paradoxie nicht einfach hinter sich lassen, sondern muss ihr aus dem Weg gehen, sie umkreisen und sich ihr nähern zugleich. Die unendliche Information, die eine Paradoxie deshalb enthält, weil aus ihr rein logisch alles abgeleitet werden kann, muss empirisch und pragmatisch auf eine endliche Information reduziert werden, deren Gehalt nichts Geringeres ist als der Verweis auf den Mechanismus, der die Paradoxie entstehen lässt. Die Paradoxie wird, anders formuliert, nicht aufgelöst oder sonst wie, als sei sie ein Makel einer andernfalls widerspruchsfreien Welt, aus dieser Welt herausgeschafft, sondern sie wird anerkannt und als ein Knoten respektiert, der einen Sachverhalt zusammenhält, der zugleich vielfältig und im Detail undurchschaubar mit anderen Sachverhalten zusammenhängt. In der Paradoxie bildet sich eine Welt ab, die von der Paradoxie zugunsten der Ausdifferenzierung eines Sachverhalts zugleich auf Distanz gehalten wird.
Weil der zweite Suchraum, der uns hier mehr interessiert als der erste, eingeschränkter ist, hält man sich am besten an die Informationen, die man bereits hat. Man geht empirisch und pragmatisch vor, sortiert nur die Belege anders, die aus einem bestimmten Blickwinkel die Paradoxie erzeugen. Und wie so oft, da bewährt sich die Pedanterie des Gelehrten, stecken wichtige Informationen bereits im Namen, Titel oder Etikett des jeweiligen Sachverhalts. Was der Intellektuelle oft für wissenschaftlichen Positivismus hält, wenn nicht sogar für den Beleg eines normativen Einverstandenseins des angestellten Wissenschaftlers mit den ihn finanzierenden Verhältnissen, ist so gesehen eine Spurenlese, die die Wirklichkeit beim Wort nimmt, weil man andernfalls nichts in der Hand hätte als das eigene Distinktionsbedürfnis. Schauen wir also auf den englischen Originaltitel des Buches von Goffman: „The Presentation of Self in Everyday Life“. Die Unterscheidung, auf die dieser Titel hinweist, ist eine Unterscheidung zwischen Selbst und Alltag, die nicht absolut, sondern relativ genommen wird. Die Präsentation des Selbst im Alltag trägt dieses in den Alltag ein, ohne es mit diesem identisch werden zu lassen. Umgekehrt deutet die Bedingung, dass das Selbst im Alltag präsentiert werden muss, darauf hin, dass der Alltag eine konditionierende Rolle spielt. Das Selbst kann nicht tun, was es will, sondern muss sich an die Bedingungen des Alltags halten, von denen es sich jedoch wiederum nicht restlos diktieren lässt, was es tut und wie es sich versteht, denn dann könnte von einem „Selbst“ keine Rede mehr sein. Und drittens, und das erst erzeugt die Paradoxie, ist es das Selbst, das präsentiert wird, und nicht etwa eine Maske. Das Selbst, das sich im Rollenspiel zeigt, ist das Selbst, das sich von diesem Rollenspiel unterscheidet.
Die Subjektphilosophie von Kant, Fichte und Hegel, misstrauisch beobachtet von Jacobi, Jean Paul, Schlegel, Heine, Büchner und Kierkegaard, unwirsch beiseitegeschoben von Marx, Schopenhauer und Nietzsche, hatte dieselbe Paradoxie in das doppelte Theorem einer leeren Selbstreferenz und unendlichen Rekursion übersetzt. Das müssen wir hier nur deshalb erwähnen, weil es belegt, dass Goffmans Einsicht im Einklang mit seinen antiken und modernen Vorläufern bestens formalisierbar ist, sobald man sich auf Algorithmen einlässt, die weder selbstreferenzielle noch paradoxe Argumente scheuen. Goffman selbst allerdings hat den Raum der Entfaltung seiner Paradoxie mithilfe eines anderen Formalismus bestimmt, der uns zu guter Letzt auch wieder zurück zum Theater führt. Er hat die Metapher und Realität des confidence game, des Vertrauensspiels, eingeführt und diese nicht etwa dazu benutzt, den Betrug aufzudecken und die Betrüger an den Pranger zu stellen, so dass alle anderen aufrichtig und ehrlich ihren Geschäften nachgehen können, sich vornehm bilden, fromm trösten, liebevoll versorgen und angenehm unterhalten lassen können. Goffman ist kein Kulturkritiker. Sondern er hat das Konzept und Perzept des Vertrauensspiels dazu genutzt, das Selbst in Rollen zu zeigen, mit denen es identisch und nichtidentisch zugleich sein kann. Und genau das ist der Stoff, den das Theater wieder und wieder auf die Bühne bringt, die romantische Lüge und romanhafte Wahrheit („Le mensonge romantique et la vérité romanesque“), von der René Girard ebenfalls in einem Buchtitel 1961, kurz nach der Publikation von Goffmans Buch, gesprochen hat. Ob Girard Goffmans Buch kannte, weiß ich nicht. Immerhin bezogen sich beide auf Kenneth Burke, den Erfinder einer dramaturgischen Sprachtheorie. Und nur am Rande sei vermerkt, dass man fast die gleiche Geschichte, die ich hier am Missverständnis des deutschen Titels von Goffmans Buch aufziehe, auch am Missverständnis des englischen Titels, „Deceit, Desire, and the Novel“ (Baltimore 1965), festmachen könnte, was dann jedoch nur zu einem Lamento über die Erfindung eines nicht ganz so flüchtigen Zeitgeists, wie man wünschen möchte, durch den Buchmarkt führen würde.
Der Formalismus eines Vertrauensspiels ist bekannt. Herman Melville hat ihm einen dokumentarischen Roman gewidmet, „The Confidence Man: His Masquerade“ (1857, deutsch, gar nicht schlecht, „Maskeraden oder Vertrauen gegen Vertrauen“, Leipzig 1991). Man spielt in drei Rollen, Betrüger (Operator), Betrogener (Mark) und Helfer (Cooler). Der Helfer steht mit dem Betrüger im Bunde, trägt jedoch dennoch seinen Namen auch unter Bezug auf den Betrogenen zu Recht. Letztlich ist das, was er tut, das cooling out, die Metapher, die Erving Goffman auch in einem großen Aufsatz, „On Cooling the Mark Out: Some Aspects of Adaptation to Failure“ (Psychiatry 15 [1952]), zur Kennzeichnung des Themas einer „very basic social story“ verwendet. „Cooling the mark out“ ist, so schreibt er, „a way in which a person becomes disengaged from one of his involvements“. Genau darum jedoch geht es in jeder Gesellschaft: Identifiziere dich nicht mit deiner Einmischung. Diese Nichtidentifikation ist die Bedingung der Entdeckung eines Selbst, das dann gleich im nächsten Zug auch dafür in Anspruch genommen werden kann, sich dann doch einzumischen, vorausgesetzt, man identifiziert sich nicht, und so weiter.
Wie also läuft das Spiel? Ein Betrüger nähert sich einem Opfer und knöpft ihm unter irgendeinem Vorwand Geld oder andere Wertgegenstände ab; der Betrogene merkt den Betrug zu spät, denn sonst wäre es keiner, beginnt sich aufzuregen und sich nach Hilfe umzuschauen. Der zweite Betrüger, der Cooler, nähert sich ihm, lässt sich die Geschichte erzählen und warnt den Betrogenen davor, die Geschichte noch öfter oder gar der Polizei zu erzählen, denn er mache sich nur lächerlich damit, wie leicht er sich habe betrügen lassen, und immerhin habe er jetzt etwas gelernt, was dazu führe, dass er nicht noch einmal werde betrogen werden können – jedenfalls nicht mit demselben Trick. Das Opfer lernt, Ärger in Scham zu verwandeln, und Scham in Trotz und Klugheit. Es vollzieht damit einen primären, immer wieder zu wiederholenden Akt der Sozialisation in eine Gesellschaft, die mit sachlich, zeitlich und sozial verwickelten Verhältnissen aufwartet, andernfalls gäbe es nichts zu lernen.
Zwei Effekte schließen sich an, ein psychologischer und ein soziologischer. Psychologisch lernt das Opfer, ein Selbst zu entwickeln, das aus der Differenz zwischen Betrogenwerden und Lernenkönnen besteht, von außen nach innen und von innen nach außen. Wie sagt Helmuth Plessner so schön in „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (Berlin 1928), einen einfachen sozialen Formalismus in eine ganze Anthropologie übersetzend? „Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts, geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo- Nirgendwann. Ortlos-zeitlos ermöglicht er das Erlebnis seiner selbst und zugleich das Erlebnis seiner Ort- und Zeitlosigkeit als des außerhalb seiner selbst Stehens, weil der Mensch ein lebendiges Ding ist, das nicht mehr nur in sich selber steht, sondern dessen ‚Stehen in sich‘ Fundament seines Stehens bedeutet. Er ist in seine Grenze gesetzt und deshalb über sie hinaus, die ihn, das lebendige Ding, begrenzt.“
Und soziologisch lernt das Opfer, das Spiel selber zu spielen. Auch der Betrüger und auch der Helfer waren einmal in der Rolle des Betrogenen. Sie haben aus ihren Erfahrungen gelernt und sind großzügig genug, anderen eine Lernerfahrung nicht vorzuenthalten, die mit dem Erwerb der Fähigkeit, sich einzumischen, ebenso identisch ist wie mit dem Erwerb der Fähigkeit, sich auch wieder herauszuhalten.
Und?
Wir alle spielen nicht Theater, sondern Vertrauensspiele. Und das ist eine ernste Angelegenheit, nur mit viel Humor, Witz und Scharfsinn zu bewältigen, weil der kleinste Fehler ein Gewebe der Erkundung unserer sozialen Verhältnisse zerreißt, auf das wir alle schon deshalb angewiesen sind, weil es ohne dieses Gewebe keine Erkundung und ohne diese Erkundung keine Verhältnisse gibt. Wir alle spielen Vertrauensspiele, und wir spielen sie gerne, so würde ich behaupten, solange die Rollen rotieren. Unerträglich wird es, wenn immer dieselben immer dieselben betrügen und diese immer von denselben wieder abgekühlt werden. Cool ist nur, wenn man ahnt, dass man die Rollen wechseln kann; und noch cooler ist, wenn man irgendwann lernt, dass es nicht unbedingt darauf ankommt, genau zu wissen, in welcher Rolle man sich gerade bewegt, solange man sie nur beherrscht.
Doch das ist Goffmans vielleicht wichtigste Einsicht: Nicht wir beherrschen unsere Rollen (mehr schlecht als recht), und auch die Rollen beherrschen nicht uns (obwohl …), sondern genau dann, wenn wir uns einmischen, während wir uns heraushalten, übernimmt die Situation die Führung, die so oder so klüger, weil vernetzter ist als das Selbst oder die Rolle, der es sich verdankt. Und vermutlich hat Goffman auch darin recht, dass er vermutet, dass man den Betrug und das Betrogenwerden irgendwann aus der Gleichung des Formalismus streichen kann, weil es letztlich nur darauf ankommt, sich wechselseitig angesichts der Widerfahrnisse des Lebens zu beruhigen. Diese Beruhigung hat nichts mit Resignation, Rückzug oder Verzicht zu tun, sondern ist die Plessner’sche Grenze, von der aus man sich mit Aufregung, Ansprüchen und Zorn, mit Überredung, Verführung und Ideen in die Verhältnisse einmischen kann, aus denen man sich zugleich auch zurückhalten kann. Der eigentliche Betrug beginnt erst dann, wenn man uns einreden will, wir dürften uns nicht heraushalten. Denn dieser Betrug nimmt uns das Selbst, das nur als Differenz zu haben ist.
Man mache die Probe aufs Exempel: Ich glaube nicht, dass es ein Theaterstück gibt, das diesen Formalismus des Vertrauensspiels oder Facetten daraus nicht zum Gegenstand hätte. Das hat das Theater dem Alltag voraus. Es muss sich am Spiel beteiligen und seinerseits betrügen, sich betrügen lassen und sich abkühlen; es kann jedoch gleichzeitig diese Spiele auch vorführen, eben zum Gegenstand machen, gleichgültig ob der Zuschauer, wachsam oder nicht, dies nun merkt oder nicht. Es kann jedoch aus diesem Spiel nicht aussteigen. Es kann kein Selbst gewinnen, das aufrichtiger, ehrlicher und authentischer wäre als das Selbst eines Individuums im Alltag. Es muss sein Publikum überzeugen; und das kann es nur, wenn es sich einmischt und heraushält. Deswegen schließlich gilt noch nicht einmal für das Theater, dass es Theater spielt.
Bleibt abschließend zu fragen, was Vertrauensspiele mit Vertrauen und mit Spielen zu tun haben. Nun, Vertrauen ist eine riskante Vorleistung, so Niklas Luhmann, die nur auf der Grundlage eines immer mitlaufenden Misstrauens erbracht wird, das laufend beruhigt werden muss. Alles andere wäre unklug. Man bringt einer Situation Vertrauen entgegen, solange man keinen Anlass hat, befürchten zu müssen, in der Rolle des Betrogenen gefangen zu sein. Und Spiele, so Gregory Bateson, sind eine Form des Verhaltens in der Welt, die sich auf Vorleistungen zwar verlässt, diese jedoch immer wieder in der Situation auch sichtbar werden lässt, überprüft, bestätigt und variiert. Während man eine der drei Rollen eines Vertrauensspiels einnimmt, spielt man mit der Möglichkeit, in einer der beiden anderen zu sein. Die Pointe daraus ist wiederum keine psychologische, sondern eine soziologische. Nicht sich selbst, sondern alle anderen beobachtet man im Hinblick auf ihre Bereitschaft, an bestimmten Stellen Vertrauen zu leisten und sich auf bestimmte Rollen festlegen zu lassen, während jedes Selbst sich vorbehält, jederzeit auf Distanz zu gehen – solange man kann. //
Soeben erschienen: Dirk Baecker: Wozu Theater? (Recherchen 99),
Verlag Theater der Zeit, Berlin 2013