Theater der Zeit

Auftritt

Theater Freiburg: Im Auge des Sturms

„Die Erwartung“ von Theresia Walser – Regie Peter Carp, Bühne Kaspar Zwimpfer, Kostüme Gertrud Rindler-Schantl, Licht Stefan Maria Schmidt, Ton Jonas Gottschall, Sven Hofmann, Komposition Jan-Peter E.R. Sonntag

von Bodo Blitz

Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Peter Carp Theater Freiburg

Angela Falkenhan in der Uraufführung von „Die Erwartung“ von Theresia Walser in der Regie von Peter Carp am Theater Freiburg. Foto Britt Schilling
Angela Falkenhan in der Uraufführung von „Die Erwartung“ von Theresia Walser in der Regie von Peter Carp am Theater FreiburgFoto: Britt Schilling

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Die Natur spielt die Hauptrolle in Theresia Walsers Auftragswerk des Theater Freiburg. Es droht ein tropischer Zyklon, und Walsers Figuren befinden sich fast ausnahmslos auf der Flucht, bepackt mit Taschen und Koffern, auf der Suche nach einer Sicherheit, die es nicht mehr gibt. Regisseur Peter Carp gelingt es in einer Mischung aus Ton und Licht, diese Katastrophensituation zu Beginn seiner Inszenierung auf sinnliche Weise erfahrbar zu machen. So wird das Publikum im Großen Haus auf akustische Weise in den nahenden Sturm hineingezogen, und verfolgt gebannt die gelben, bedrohlich zirkulierenden Lichtstrahlen auf leerem Bühnenboden. Ein durchaus beeindruckender Beginn für das folgende Katastrophentheater.

Walsers Stück trägt parabelhafte Züge. Im Auge des Sturms offenbaren sich natürlich menschliche Grundeigenschaften. Peter Carp stellt diese in seiner behutsamen und bewahrenden Art seiner Regie in den Vordergrund. Angela Falkenhan gibt die gewinnorientierte Versicherungsangestellte Ada, welche auch im Angesicht der Katastrophe vor allem an ihre Aktiendividende denkt. Dabei verliert sie sowohl ihren Vater als auch ihren Mann aus den Augen. Die Überzahl ihrer grauen Rollkoffer scheint ihr wichtiger, als der menschliche Kontakt, und auch die Milchzähne ihrer Kinder dürfen in ihrem Fluchtgepäck nicht fehlen. Angela Falkenhan verleiht dieser Rücksichtslosigkeit selbstverständliche Züge und damit eine Normalität, die in Walsers Drama weit verbreitet ist. Während Martin Hohner als Ron vergeblich nach seiner Frau sucht und als eine der wenigen Figuren existentiell erschüttert wirkt.

Auch innerhalb einer Dreier-WG aus Conni (Thieß Brammer), Bardi (Martin Müller-Reisinger) und Karem (Raban Bieling) gerät Karem auf der Flucht aus den Augen, aus dem Sinn und seine beiden Weggefährten kümmern sich nicht weiter. Es bleibt dem Alten (Hartmut Stanke) vorbehalten, die Ich-Zentriertheit fast aller Figuren zum Ausdruck zu bringen: Wiederholt wünscht er sich endlich warmes Altenheimessen anstelle des sonst üblichen kalten, sowie seine Nasentropfen. Er bleibt damit wie fast alle Figuren konsequent bei der eigenen Bedürfnisbefriedigung.

Peter Carps Regie erarbeitet nicht nur in dieser Figur des Alten auf spielerische Art und Weise Momente des Grotesken. Eine Ausnahme der vorherrschenden Fluchtbewegung bilden die Fränkels, Untermieter von Ada und Ron: Anja Schweitzer als Elly sowie Holger Kunkel als Eddie genießen den Garten, den sie kurz vor Katastrophenbeginn Adas Mann Ron (Martin Hohner) abgekauft haben, und trotzen dem Sturm. Sie feiern ihren neuen Besitz durch den Bau einer Mauer, Sinnbild für Abschottung von der Restwelt. Eine Mauer, die sich auch politisch deuten lässt, Stichwort „Festung Europa“ oder Primat des „Eigenen“ gegenüber dem „Fremden“.

Es ist dieser Egozentrik und Empathielosigkeit der meisten Figuren geschuldet, dass direkte Kommunikation, Zugewandtheit und Interaktion selten zu finden sind. Das ist für das Schauspiel selbst ein hoher Preis. Es drückt sich auch dadurch aus, dass die Figuren häufig ins Publikum sprechen, anstatt zu ihren Spielpartner:innen. Selbst die Figur der Naturschützerin, Laura Palacios als Laura, wirkt bei ihrem Kampf um die Rettung seltener Insekten vor allem mit sich beschäftigt. Die Peripetie des Dramas ergibt sich nicht aus der Handlung und dem Verhalten der Figuren. Sie erfolgt von außen, indem die Naturkatastrophe, die alle erwartet haben, völlig überraschend ausbleibt. So treffen sich Ada und Ron, um ihren Kindern ein beruhigendes Selfie-Video aufzunehmen – eine der stärksten Szenen der Freiburger Uraufführung. Was als Stereotyp guter Laune im Sinne von „alles ist Bestens“ beginnt, wandelt sich durch Rons live gesprochene Hinweise darauf, dass seine Ehefrau Ada ihn auf der Flucht vor der Katastrophe alleingelassen hat. Das Fehlverhalten und die Rücksichtslosigkeit im Auge des Sturms wirken über die ausgebliebene Katastrophe hinweg, und prägen das Ende des Auftragswerkes. Adas wortreicher Versuch, ihren Garten der Allgemeinheit zu stiften, trifft auf die geänderten Besitzverhältnisse, und anstelle von Gemeinschaft gehen die Figuren in Walsers Dramenfassung am Ende fast alle gegeneinander los. Carp deutet das im Stroboskoplicht nur an, und lässt die Figuren im durchsichtigen Zellophan einfrieren, als seien sie „vom Eishauch zugedeckt“. Ein starkes Bild, das als später auch Sieg der Natur gedeutet werden kann.

Walsers Rückgriff auf das antike Drama lässt sich nicht nur über den Moment des klassischen Umschlagpunkts von „Die Erwartung“ erkennen, sondern auch in der Adaption des antiken Tragödienchors. Es bleibt der Figur der Ziege vorbehalten, die Dramenhandlung zu eröffnen und zu beenden. So wird auch die Peripetie wird von der Figur der Ziege für die Zuschauer:innen kommentiert. Josefin Fischer gelingt das Kunststück, mit staksendem Gang und klarer Stimme dieser fabelhaften Figur zwischen Tier und Mensch Autorität zu verleihen. Sie imaginiert „eine Welt kurz vor dem Untergang“ und erinnert uns Zuschauer:innen daran, sich nicht allzu leicht an die Katastrophenmeldungen aus aller Welt zu gewöhnen. Am Ende gibt es für diese Uraufführung starken Applaus. 

Erschienen am 14.2.2025

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