Ästhetik des Textes - Ästhetik des Theaters
Heiner Müllers Lohndrücker in Ostberlin
Erschienen in: Recherchen 12: Das Politische Schreiben – Essays zu Theatertexten (10/2012)
Ein Ereignis der deutschen Theatergeschichte – hochbedeutend und zwiespältig zugleich: Am 29. Januar 1988 wurde in Ostberlin am Deutschen Theater Heiner Müllers DER LOHNDRÜCKERaufgeführt. Dreißig Jahre sind seit der Entstehung des Textes vergangen. 1956–57 verfasst, gehört er noch dem Genre des Produktionsstücks an, das in den fünfziger Jahren von der DDR-Kulturpolitik gefördert wurde. Müller behandelt die damals mehrfach gestaltete Geschichte eines »Helden der Arbeit«, der mit übermenschlicher Kraftanstrengung in höllischer Hitze einen defekten Fabrik-Ringofen bei weiterlaufendem Betrieb repariert.2 Aber – wie der Titel anzeigt – die extreme Leistung wird von den anderen Arbeitern als unsolidarische Lohndrückerei gesehen, ganz so, als handle es sich um kapitalistischen Akkord. Wie in der klassischen Tragödie, Hegel zufolge, die subjektive und die objektive Gestalt der Sittlichkeit zusammenstoßen, so spaltet sich hier die Solidarität. Was objektiv Element des Aufbaus einer neuen Gesellschaft sein kann, nimmt unmittelbar die Erscheinung mangelnder Solidarität mit den Arbeitern an.3 Eine Zuspitzung der ideologischen und psychologischen Problematik erreicht Müller durch eine mehrfache historische Verflechtung: Der Bestarbeiter Balke hat während der Nazizeit den jetzigen Parteisekretär des sozialistischen Betriebs denunziert, dieser aber muss für den sozialistischen Fortschritt auf keinen anderen als seinen Denunzianten setzen. Und umgekehrt: Der ehemalige Denunziant...