Theater der Zeit

Die Arbeit am künstlerischen Text

Der Gestus der Kleist’schen Sprache

von Viola Schmidt

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

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In seinem Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ beschreibt Heinrich von Kleist Sprechen als lautes Denken: „Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort, und die Gemütsakten für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse. Etwas ganz anderes ist es wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist. Denn dann muß er bei seiner bloßen Ausdrückung zurückbleiben, und dies Geschäft, weit entfernt ihn zu erregen, hat vielmehr keine andere Wirkung, als ihn von seiner Erregung abzuspannen.“195

Die Sprache wird als bildende Kraft des Gedankens betrachtet, an dem sich im Vollzug des Sprechens Leidenschaften entzünden. Die Emotionen und Gefühle entstehen im Moment des Sprechens, das an ein Gegenüber gerichtet ist. Auch wenn diese Figur wie Antilochus im 1. Auftritt nicht oder wenig zu Wort kommt, ist seine Anwesenheit unmittelbarer und körperlicher Auslöser für bewegtes sprechendes Denken. Wir können Penthesileas jähes Erröten, Odysseus’ Durst, seine Verwunderung oder das Zucken seiner Oberlippe im 21. Auftritt miterleben. Eindruck und Ausdruck liegen bei Kleist sehr nah beieinander. Es kommt uns so vor, als würden sich einige Ideen erst während des Sprechens herausbilden. Zu viel Reflektiertheit scheint den Zauber des Augenblicks zu zerstören. In seinem Essay „Über das Marionettentheater“ nimmt Kleist das Thema des Widerspruchs zwischen Freiheit und Reflektiertheit noch einmal auf.196 So finden wir in Kleists „Penthesilea“ instinktives Figurenverhalten als Gegenentwurf zur vernünftigen Harmonisierung von Pflicht und Neigung wie etwa in Goethes „Iphigenie auf Tauris“. Dem hohen klassischen Ton steht ein fast umgangssprachliches Sprechdenken bei Kleist gegenüber. Die besondere Kleist’sche Syntax lässt uns die Mühe der sprechenden Figuren nachvollziehen, ihren Eindrücken Ausdruck zu verleihen. Gleichzeitig können wir gemeinsam mit ihnen darüber staunen, dass die Sprache ihre Grenzen hat, dass sie fremd werden kann und in die Katastrophe führt. Diese Sprache hat einen unverwechselbaren Gestus. Das besondere Kleist’sche Sprechdenken ist in diesen Gestus eingeschrieben. Es entwindet sich den Körpern, wird zurückgehalten und bricht aus ihnen heraus.

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