Magazin
Der Westen im freien Fall – Steffen Menschings neuer Roman
Steffen Mensching: Hausers Ausflug. Wallstein Verlag, Göttingen 2022, 249 S., 22 Euro.
von Michael Helbing
Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)
Assoziationen: Buchrezensionen
Heiner Müller ist am Amt gescheitert, Christoph Hein schon am Versuch. Steffen Mensching aber ist der Beweis dafür, dass es gutgehen kann: der Schriftsteller als Intendant. Seit fünfzehn Jahren leitet er als disziplinierter Nonkonformist das Theater Rudolstadt. Als Autor aber blieb er nicht nur auf der Bühne sichtbar. Im Gegenteil führte ihn sein Schreiben, das ihm der „intellektuelle Gegenentwurf zur Theaterarbeit“ wurde, inzwischen zu seinem größten literarischen Erfolg. Nach zwölf Jahren Arbeit erschien 2018 sein Opus Magnum „Schermanns Augen“ das über mehr als achthundert Seiten weg aus Wiens Caféhäusern in den sowjetischen Gulag führt. Dieser Roman beschreibt in Geschichten die Geschichte europäischer Intellektueller aus einer inzwischen untergegangenen Welt.
Sein neuer Roman beschreibt den nahenden Abgrund, während am Horizont die Sonne des Westens untergeht: Auf den 2021 vorgelegten Gedichtband „In der Brandung des Traums“ folgt die binnen drei Jahren entstandene dystopische Robinsonade „Hausers Ausflug“. Die auch fürs Theater mehr als widrigen Umstände der Pandemie begünstigten diese literarische Produktivität.
Der 249-Seiten-Roman führt uns hinter eine vierte, verheerende Corona- sowie eine nächste riesige Flüchtlingswelle. Und wir befinden uns inmitten einer heftigsten Energiekrise, die den zivilen Flugverkehr vernichtet hat. Wir schreiben den Herbst 2029, wo jener gewisse Punkt erreicht ist, den, wie uns ein vorangestellter Aphorismus nahelegt, Kafka fest im Blick hatte: der Punkt, an dem es keine Rückkehr mehr gibt.
Dafür hat Mensching einiges getan, in durchaus kafkaesker Manier. „Die Verwandlung“ und „Der Process“ klingen an. Denn jemand musste David Hauser, den Protagonisten, verraten und verkauft haben. Und als er eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, steckte er in einer Box. Sie ist gleichsam die Grube, die er selbst gegraben hatte.
Hauser, Ostdeutscher, Sohn eines kommunistischen Schriftstellers, ist ein schwerreicher Krisengewinnler und zugleich, darauf legt er Wert, „der Freak unter den Managern“. Er kauft stillgelegte Flugzeugflotten auf und schickt darin als Dienstleister des Staates abgelehnte Asylbewerber nach Hause. Sie werden auf unbemannten Flügen ausgekippt, in Aluminiumboxen über ihren Herkunftsländern, die ihre Wiederaufnahme verweigerten. Jetzt aber hat ihn selbst jemand auf diese Art entsorgt. In schäbigen Klamotten und mit syrischem Pass landet er irgendwo im Nirgendwo, das sich als kurdisches Anatolien im Salafistenkrieg erweisen wird. So erfährt er am eigenen Leib, „wie schnell das vertraute Leben enden und sich in einen Albtraum verwandeln konnte“.
Machte man daraus in Rudolstadt ein Drama, was denkbar wäre, so würde dies ein Zeitstück und jedenfalls ein Kammerspiel. Ort der Handlung: in einer „beschissenen Berghöhle“. Personen: Hauser und ein alter Mann mit Gewehr, sein taubstumm wirkender Feindfreund, der ihn in Ketten legt. Zwei zur Allegorie neigende Antipoden in einer gedankenreichen, aber wortkargen Performance.
Menschings Trick ist, uns die Kulisse eines Abenteuerromans auszumalen und einen Entwicklungsroman vorzutäuschen. Doch während wohl einiges passiert, geht nichts vorwärts. Hausers Geschichte tritt auf der Stelle, dreht sich wahlweise im Kreis. Sein Schicksal steht für den Westen insgesamt. Der offene Ausgang sieht dann auch sehr nach Illusion aus.
Der Preis für diesen Trick: Der zwar lakonisch und pointiert formulierte Roman liest sich mitunter, als sei er dreimal so lang. Mensching ist kein Sadist. Aber unser aller Qual will er uns eben auch nicht nehmen. //