Thema
Der helle Wahnsinn
Gefangener und Bewacher, Intellektueller und Narr: Der Schauspieler Edgar Selge treibt seinen Körper über die Grenzen dessen, was man allgemein für zuträglich hält
von Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Edgar Selge: Der helle Wahnsinn (01/2019)
Assoziationen: Schauspiel Stuttgart Schauspielhaus Hamburg
Ach, darüber habe er schon so oft geredet. Viel zu oft? Es ist buchstäblich die Urzelle seines Lebens, aber die Gefahr besteht, dass sie im Anekdotischen versandet. Wenn man die Dinge zu lange auf eine bestimmte Weise anderen erzählt, dann vergisst man irgendwann, was sie wirklich für einen waren. Und das will er keineswegs, dafür ist es zu wichtig. Das Wort Unterhaltung beargwöhnt Edgar Selge – mehr, als man bei einem Schauspieler vermutet. Man könnte ihn sich, mit diesem Anflug von Askese in seinem Gesicht, gut als Eremit in tiefem Schweigen versunken in seiner Klause vorstellen – bis es dann zum nächsten Auftritt geht und alles Zurückgestaute herausbricht.
Edgar Selge rührt ausdauernd in seinem Kräutertee, und weil durch die Theaterbuchhandlung Einar & Bert in Berlin-Prenzlauer Berg, in der wir an einem Tisch beim Fenster sitzen, ein leiser Luftzug weht, hat er sich auch schnell wieder seine Mütze aufgesetzt. Er besitzt die empfindlichen Nerven von Auftrittskünstlern, die sich ein schmerzendes Kreuz oder eine belegte Stimme eigentlich nicht leisten können. Wer wie Selge siebzig Jahre alt geworden ist und auf der Bühne nicht nur Worte, sondern auch seinen Körper über die Grenze dessen treibt, was man allgemein für zuträglich hält, was muss der sein – stark oder eher leidensfähig? Gewiss muss er sich seiner Schwäche länger aussetzen, als er es aushalten würde, wenn er nicht gerade auf der Bühne steht. Das hat mit deren Magie zu tun, die für ihn ein Synonym der vita experimentalis ist. So bündig sagt er das nicht, rührt stattdessen weiter sinnend in seinem Tee und sucht nach einem Ausdruck, in den seine Herkunft hineinpasst.
Gefängnis als Existenzmetapher
Von seinem vierten bis achtzehnten Lebensjahr wohnte er keine fünfzig Meter von der Mauer entfernt. Jener Mauer des Gefängnisses Herford, die zum Symbol seiner Existenz geworden ist. Sein Vater war in diesem Gefängnis der Direktor, jedoch ein ganz und gar ungewöhnlicher. Er spielte hervorragend Klavier, fast wäre er Musiker geworden, wurde jedoch Jurist, war verstrickt in das NS-System, wie so viele. Aber nach dem Krieg gehörte er zu der Minderheit, deren Katharsis echt war – er studierte Theologie, wollte am eigenen Leib erfahren, was der Mensch eigentlich ist. Seinen Gefangenen, die ihn verehrten, gab er regelmäßig Konzerte – und das Kind Edgar Selge wuchs quasi mit und in dem Gefängnis auf.
Er trage es auch heute immer noch in sich, sagt er, ebenso wie die Musik. Fast klingt es lapidar, aber nur fast. Äußerlich gesehen ist ein Gefängnis bestimmt von Zellen mit Türen ohne Klinke von innen und Gittern vor den Fenstern. Von der totalen Kontrolle über jede Lebensäußerung der Menschen, die hier einsitzen, nicht wohnen. Ich sage, das kenne ich gut, einmal habe ich für ein Gefängnistheater gearbeitet, aber das ständige Schließen der Türen hat mir schnell klargemacht, dass ich klaustrophobisch und also ganz und gar nicht gefängnistauglich bin. Selge lacht bitter: Wohl kein Mensch sei von seiner Anlage her „gefängnistauglich“. Eingesperrt sein, sagt er, sei eine sehr schwere Strafe, viel schwerer als es sich die meisten vorstellen können. Aber der geliebte Vater war ja nicht der langjährigste Häftling, sondern der Direktor des Gefängnisses. Das macht die Perspektive für Edgar Selge so schwierig. Denn jeder, der mit Gittern leben oder arbeiten muss, ist auch von diesen beschädigt. Insofern ist Selges Perspektive in der Erinnerung eine doppelte: Gefangener und Bewacher zugleich.
Er fühle sich wie „aus Stimmen und Bewegungen zusammengesetzt“. Eingesperrt sind wir alle, in unseren sterblichen Körper sowieso, aber auch in unsere Träume und Erinnerungen, schlimmer noch: Ängste. Man lebt ja nie nur mit den Lebenden zusammen, auch mit den Toten – den Eltern etwa, die man in sich trägt. Dem entkommt man nicht – und sollte es auch gar nicht erst versuchen.
Gefängnis als Existenzmetapher, für Selge ist sie immer gegenwärtig geblieben, sie prägte auch sein Spiel auf der Bühne. Revolte oder Resignation angesichts dieses „Geworfenseins“, wie es Heidegger nannte – und nichts dazwischen? Selge wollte immer ein Drittes. Ich sehe Dustin Hoffman als Strafgefangenen in „Papillon“ vor mir. Auch er ein in höchstem Maße Gefängnisuntauglicher, der schwächliche Fälscher, der in Träume flüchtet, um zu überleben. Die wirkliche Flucht in die Freiheit gelingt ihm nicht. In der letzten Sequenz des Films auf der Teufelsinsel sieht man seinen Mitgefangenen, Papillon, gespielt von Steve McQueen, sich entschlossen von einem hohen Felsen in die Brandung stürzen und davonschwimmen. Der Zurückgebliebene blickt wie alle plötzlich Zurückgelassenen – ratlos, bewundernd, traurig, aber auch voller Ahnung, dass dort am Horizont nichts sein wird, was nicht auch hier ist. So ungefähr schaut Selge, wenn er über das Gefängnis spricht, das für ihn ein Ort des unauflösbaren Zwiespalts ist. Ein Ausdruck menschlicher Extremzustände.
Von hier ist es zur Tragödie nicht weit, etwas weiter – und schwieriger – ist es zur Komödie. Das Schwere für Momente leicht zu nehmen, wird zur Kunst, die nicht jeder lernt. Vor diesem biografischen Hintergrund scheint auch klar, warum Selge dann als Student zu den wenigen 68ern gehörte, die nicht von Vaterhass getrieben waren.
Es war 1968, da gründete er in München das Theater in der Marktlücke und führte die „Revue roter Schummel“ auf – darin ging es um die Geschichte der SPD und ihren ewigen Opportunismus. Um Willy Brandt, den heute so verklärten, der damals die Notstandsgesetze mittrug. Selge war politisch sehr links. Aber da war zugleich etwas anderes: Er studierte in München bei dem Philosophen Ernesto Grassi, einer lebenden Legende, der dort 1948 das Seminar für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus gegründet hatte und auch leitete. Grassi war ein besessener Theatergänger, kannte so epochale Regisseure wie Jürgen Fehling persönlich. Und mehr noch, was er da sah und erlebte, fand Eingang in sein Denken über die Welt. Bei Grassi wollte Selge schließlich sogar über das Thema der Metapher promovieren, aber dann kam es doch anders.
„,Kunst und Mythos‘ ist sein bestes Buch!“, ruft Selge – und unser geplantes Interview scheint nun endgültig zu einer Art Seminar zu werden. Das Kapitel „Der enthusiastische Ursprung der Kunst“ hat Selges Weltsicht geprägt. Vor allem die Rolle, die Giambattista Vicos „Neue Wissenschaft“ darin spielt. Vom mythischen Begriff der Verwandlung aus erkläre dieser den „neuen Raum“, den sich der tätige Mensch schafft – das ist dann eine andere Vorstellung von der Kultur als eine bloß rationalistische. Zum Beispiel das Feuer! Mittels dessen Kraft erobert sich der primitive Mensch, umgeben von Urwald, erstmals einen eigenen Raum. Es ist ein sakraler Raum, der Ursprung einer neuen Ordnung.
„Wussten Sie“, sagt Selge, „dass Vico bei James Joyce ganz zentral ist?“ Ohne ihn gäbe es diese besondere, alles Lineare aufsprengende Struktur des „Ulysses“ nicht. Nichts sei nur nacheinander, alles auch nebeneinander – und die Reise durch den Text ziele nicht auf Ankunft! Selge zitiert nun ausführlich die entsprechenden Stellen aus „Ulysses“, natürlich in perfektem Englisch – schließlich hat er selbst in Dublin gelebt.
In den frühen siebziger Jahren begegnete Selge dann seinem späteren Schwiegervater Martin Walser, von dem er „Ein Kinderspiel“ inszenierte, eine 68er-Familienszenerie, in der der Generationenkonflikt eskaliert. In jugendlicher Unbefangenheit lud er den Autor sogar zur Premiere ein. Walser kam dann auch, mit dicker Aktentasche, aber ohne Tochter. Franziska Walser, seine spätere Frau, lernte er dann erst beim Schauspielstudium auf der Otto Falckenberg Schule in München kennen.
Bleiben wir bei den Anfängen. Als Selge in Detmold auf das Christian-Dietrich-Grabbe-Gymnasium ging, wollte er den Detmolder Vortragskünstler und jüdischen Volksschauspieler Joseph Plaut für eine Schülervorstellung gewinnen. Plaut war da schon Mitte achtzig und starb noch im gleichen Jahr. Er verströmte eine 19.-Jahrhundert-Aura, die Selge seltsam anrührte. Während im Fernsehen das WM-Finale England gegen Deutschland lief, begann Plaut Anekdoten zu erzählen und spielte ihm plötzlich eine Szene aus Franz und Paul von Schönthans „Der Raub der Sabinerinnen“ vor.
Selge war von diesem Emanuel Striese (die Lieblingsrolle Plauts: der Provinztheaterdirektor), der Künstlerpose mit Jahrmarktsbudenfuror nahtlos verband, sofort fasziniert. Von wegen Schmiere! Es ist die härteste vorstellbare Schule, Menschen zu unterhalten, die Kunstfiguren ganz naiv aufzufassen – Hans Moser etwa hat in Wiener Heurigen gelernt, das nur eines auf der Bühne niemals passieren darf: zu langweilen. Da erwacht der Dompteur, der Hypnotiseur und der präzise mit Wortnuancen hantierende Betrüger – alles in einem und das Ganze besitzt dann jene besondere Aura des Zugleich von Höchstem und Niedrigstem, die man nur hier und jetzt spürt, die sich nicht konservieren lässt. Plaut, das war eine andere Welt als die der großen alten Charakterschauspieler, mit denen Selge es dann später zu tun bekam wie Bernhard Minetti oder Martin Held. Diese funktionierten nur innerhalb des Staatstheaters mit einem bildungsbürgerlichen Publikum.
Kleinkünstler wie Plaut dagegen wechselten zwischen den Dialekten und langten statt beim Tragischen immer beim Grotesken und Skurrilen an. Diese kleine Form angesichts großer Themen, die Kunst der Brechungen, die die allzu hehren Ideale immer ein Stück beiseite spielt – und dem Helden einen Narrenhut aufsetzt, das hat Selge damals stärker geprägt, als er anfangs glaubte. Der Detmolder Plaut, der als Jude in der Nazizeit Berufsverbot hatte und nur durch Flucht überlebte, trat nach 1945 wieder auf – oft genug vor den gleichen Leuten, die die Nazis an die Macht gebracht hatten und die ihn als Juden verachteten. Er öffnete Selge jenes „Fensterchen zur Welt“ mitten in der Provinz, wo der Wind der Weltgeschichte immer besonders scharf und kalt weht. Na ja, sagt Selge, im Grunde sei er Imitator gewesen, der versucht habe, es den Leuten recht zu machen. Das sei dann sehr schnell mit seinem eigenen an den „roten Zellen“ gebildeten politischen Selbstverständnis kollidiert. Ein kritisches Verhältnis zum Staat sei für ihn selbstverständlich gewesen. Ein Drang zur ständigen Veränderung – anders als im Osten, wo doch eher eine Stillstandsmentalität geherrscht habe. Ich widerspreche, gerade im Westen seien mir die ersten mustergültigen Staatsbürger begegnet – im Osten haben, zumindest in den achtziger Jahren, die meisten in innerer Distanz zum Staat gelebt, bei „Beibehaltung der äußeren Rituale“, wie Ernst Jünger einmal das stoische Bewusstsein charakterisierte. Mit Selge kann man solche Fragen jenseits der Schlagworte besprechen, er denkt oft darüber nach, was die Deutschen heute immer noch trennt.
Lebensekel eines Intellektuellen
Vorsichtig dreht er sich auf seinem Stuhl, eine Hand im Rücken. Wer hätte gedacht, dass ihm ausgerechnet die Rolle des König Lear körperlich alles abverlangt? Schon Karin Beiers Inszenierung von Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ 2016 am Schauspielhaus Hamburg, diesem Protokoll eines Lebensekels, all die Verrenkungen eines Intellektuellen, dem der vertraute Boden unter den Füßen fortgezogen wird, hatte Selge viel abgefordert: im Bühnenbild von Olaf Altmann turnt er am Abgrund entlang. Warum war dieser Abend immer ausverkauft, gab – und gibt – es so einen unvorstellbaren Andrang?
„,Unterwerfung‘“, sagt Selge, „spielt mit Ängsten, die in der Gesellschaft vorhanden sind.“ Es sei aber auch viel Komisches darin, das man sichtbar machen müsse. Als sein Neffe Titus Selge mit ihm „Unterwerfung“ verfilmen will, bekommen sie an der Pariser Sorbonne Drehverbot. Die Leitung der Universität war durch Houellebecqs Provokation an die Grenzen ihres Humors getrieben worden. Selge findet das unsouverän. Hat der ungeheure Erfolg der Inszenierung ihn irritiert? Es kursiere, so Selge, die merkwürdige Rede vom „Beifall von der falschen Seite“. Das finde er völlig falsch. In diesem Punkt ist er dann ganz selbstkritischer 68er. Wer so rede, der setze automatisch voraus, dass immer die eigene Seite die richtige sei – und diese Selbstgerechtigkeit, die er bei den Westlinken (er war schließlich selbst einer) zur Genüge kennt, stört ihn erheblich. Ja, all diese Anklagen gegen die Eltern, die in der NS-Zeit fast alle irgendwie schuldig geworden seien – das war auf naive Weise ungerecht. Was, wenn man selbst in prekäre Situationen gekommen wäre, wo man sich hätte verweigern müssen, um nicht schuldig zu werden? Und niemand schaut hin, wenn man ein unbekannter Held geworden ist, der sich opfert. Die Dinge sind schwierig – und die 68er, auch er selbst, haben es sich zu leicht gemacht, als sie bloß auf andere zeigten. Und wo war denn ihre geschichtliche Bewährungsprobe, was riskierten sie für die selbst erkannte Wahrheit?
Selge sagt, er debattiere über diese Dinge auch mit seinem Schwiegervater Martin Walser, der lange als linkes Gewissen der alten Bundesrepublik galt, dann aber, als er in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche vor einer „ritualisierten“ Erinnerungskultur warnte (als hätte er Verbrechen rechtfertigen, gar entschuldigen wollen) plötzlich vom Bannstrahl der Stigmatisierung getroffen wurde. Einer, der Schuld relativiert! So kann man missverstanden werden.
Welch weite Bögen lassen sich hier schlagen, von Helmut Dietls Münchener Gesellschaftskomödie „Rossini“ (1997), in der er der „hessische Sparkassenlümmel“ war, der auf die Filmrechte des Romans „Die Loreley“ des Bestsellerautors Jakob Windisch (das Alter Ego des Mitdrehbuchautors Patrick Süskind) spekuliert. Ein Wicht, der mittels Geld zu Gewicht zu kommen versucht. Oder Selge als Richard Wagner in „Ludwig II.“ von Peter Sehr, ein musikalisches Genie mit eigener Sparkasse im Hinterkopf, denn in Geldnöten war er immer. Wie auch sein Faust in Jan Bosses Inszenierung 2004 am Schauspielhaus Hamburg (mit Joachim Meyerhoff als Mephisto), der schlaksige Anzugträger, der aus dem Publikum kommt, ein Gremienphilosoph, der vom Jungbrunnen träumt. Immer geht es um Unverhältnismäßigkeiten. Der Mensch, mehr komisch als tragisch, aber immer elend in seinem Versuch, größer zu wirken, als er ist.
Am Hamburger Schauspielhaus ist Selge nun auch König Lear. Ein Schattenbildwerfer, der wie eine Erinnerung an einstige Größe immer an der Wand des engen Guckkastens, den Johannes Schütz entwarf, entlangschleicht. Anfangs unauffällig im grauen Anzug, wie der Sparkassendirektor auf dem Weg zu Sitzung, in der über einen großen Kredit beraten wird. Beladen mit Vergabekompetenz. Dann der fatale Irrtum, der sich als nicht korrigierbarer Irrtum erweist: zu Lebzeiten bereits sein Erbe an die drei Töchter zu verteilen. Offenbar glaubt er, dies sei eine Art Kredit, dessen Bewilligung ihm ein achtbares Alter sichert. Denn einige Privilegien will er behalten, vor allem die Königswürde. Doch wie diese einfordern ohne Macht?
Der Absturz König Lears ist der in die Ohnmacht des einstigen Machthabers, für den Machtlosigkeit nicht der Normalzustand des Menschen, sondern pure Vernichtung ist. Der Anzug ist bald weg, und Lear irrt nackt durch die wüste dunkle Nacht, Inbegriff der Unbehaustheit. Ein Schatten seiner selbst, der vor seinem Ende wie ein Toter behandelt wird, obwohl er noch atmet und sich bewegt. Aber haben die Erben denn nicht auch irgendwie recht – müssen sie mit dem Erblasser rechnen, als sei er noch unter den Lebenden?
Lear, plötzlich seinen Zustand als Untoter begreifend, läuft, einer alten Hexe nicht unähnlich, den Kopf weit nach von gestreckt, panisch durch die Nacht. Ein Fluchttier gewiss, aber auch einer, der sich fluchend vor dem großen Fluch des Schicksals zu retten versucht. Wie er in dieser Szene Ernst Barlachs Furien aus dem Band „Zeichnungen“ von 1936 gleicht! Kaum war der Band bei Reinhard Piper erschienen, wurde er von den Nazis sofort als „entartet“ verboten. Furien sind Boten der Vernichtung, aber sie sind auch selbst die ersten, die auf den Scheiterhaufen kommen. Unglücksboten, deren Schrei jede Illusion von heiler Welt jäh zerfetzt. Und doch ist in ihnen etwas, das dem Bösen mit einem Anflug von Heiterkeit begegnet. Furien bevölkern die Grenzregionen des Schreckens, an dessen Rändern das Groteske aufscheint. Vor allem, sagt Selge, habe er für den Lear den richtigen Atem finden müssen, auf die Worte hören und ihnen gleichzeitig antworten. An einen Text an sich glaube er nicht, das Gerede vom „Urtext“ sei der Tod des Theaters.
Auch Lears Leiden haben, wenn man aus der Distanz auf sie blickt, etwas Komisches. „Wärst du doch erst weise und dann alt geworden“, sagt der Narr (die hinreißend kantige Lina Beckmann) zu ihm. Sie ist die Einzige, die jetzt noch bei ihm bleibt. Jetzt, wo der einstige Herrscher selbst zum Narren wurde. Nach dem Sturz.
Jedoch, der Abend muss doch auch etwas Spielerisches besitzen – Shakespeare schrieb schließlich nicht nur geniale Stücke, er war doch immer auch ein kühl kalkulierender Theatermann, auch er ein Striese, der seine Nase in den Wind hielt, um zu erahnen, welche Stoffe auf welche Weise erfolgreich werden könnten?
Selge wirkt an dieser Stelle verstimmt. Da war wohl zu viel von Äußerlichkeiten, von Betrieb die Rede. Natürlich weiß er, dass Karin Beier ihn auch darum als Lear besetzt hat, weil er als Publikumsliebling die 1200 Plätze des Hamburger Schauspielhauses füllt. Publikumsliebling, was für ein schreckliches Wort! Das Publikum will unterhalten werden, gewiss, das gehört zum Theater. Aber wie er den Lear spielt, was er für ihn bedeutet, ist etwas ganz anderes.
Was, das gilt es immer erst noch im Spiel zu ergründen. Nein, hier sind keine ironischen Fluchten erlaubt, dem Schmerz und Wahn will Selge sich ganz direkt auf den nackten Leib laden, den Stimmen, die er hört, auf ganz eigene Weise antworten. //