Prekäre Protagonisten
Acht zeitgenössische Theatertexte aus Frankreich, Quebec, Belgien und der Schweiz
von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand
Erschienen in: Scène 20: Neue französische Theaterstücke (10/2017)
Assoziationen: Dramatik
Was vermag das Theater in einer Welt, die sich so rasant im Wandel befindet wie unsere? Kann es gesellschaftlich wirksam werden oder zumindest bestehende Konflikte sichtbar machen – oder soll es sich im Gegenteil als künstlerische Heterotopie verstehen? Welche Rolle spielt sein Publikum dabei? Wer im Jahre 2017 eine Auswahl zeitgenössischer Theatertexte unternimmt, muss sich diese Fragen wohl oder übel stellen.
Die vorliegende Jubiläumsnummer der Reihe SCÈNE, die seit nunmehr 20 Jahren alljährlich französischsprachige Theatertexte in deutscher Übersetzung präsentiert, vermag keine eindeutigen Antworten zu geben. Dennoch kristallisieren sich aus den acht Texten aus Frankreich, Quebec, Belgien und der Schweiz, die wir hier vorstellen wollen, zumindest Themenfelder heraus. Grob gesprochen handelt es sich um den Bereich der manuellen Arbeit und um die Rolle der Frau in der westlichen Gesellschaft. Einige der abgedruckten Stücke beschäftigen sich mit dem Arbeitermilieu, seinen Nöten und seiner zunehmenden Prekarisierung – aber auch mit der Schwierigkeit eines quasi dokumentarischen künstlerischen Blickes „von außen“. Dass Prekarisierung nicht nur ein wirtschaftliches, sondern eben auch ein emotionales, affektives Phänomen ist, machen die zentralen Frauenfiguren einiger Texte deutlich. Es wirkt, als seien sowohl die gesellschaftlichen als auch die privaten Beziehungen zunehmend in Auflösung begriffen.
Bei aller stilistischen und inhaltlichen Verschiedenheit umkreisen die Arbeiten in diesem Band die Frage nach der schrittweisen Aufkündigung des gesellschaftlichen Konsenses in einem Kontext, der auch zwischenmenschliche Beziehungen nach den Kriterien von Gewinn und Rentabilität bemisst. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Individuen, aber eben auch umgekehrt die Frage danach, ob die Gesellschaft noch im Stande ist, ihrer Verantwortung für das Individuum nachzukommen.
Einige unserer Texte scheinen auf den ersten Blick weniger politisch, weniger „welthaltig“, da sie sich ins Zwischenmenschlich-Private zurückziehen. Dabei wird jedoch das Klischeebild des heterosexuellen Paares massiv auf die Probe gestellt. Kann es wirklich als Zufluchtsort gegen soziale Gewalt und wirtschaftliche Bedrohung fungieren – oder funktioniert es längst nach denselben ökonomischen Kriterien, die auch alle anderen zwischenmenschlichen Transaktionen zu dominieren scheinen?
Eröffnet wird der Band von Fabien Cloutiers „Das perfekte Hühnchen“, einer bitterbösen Verlierergeschichte irgendwo zwischen Stand- Up-Comedy, Sozialporträt und dialektalem Volkstheater im Stil eines Kroetz oder Horváth. Irgendwo tief in der Quebecer Provinz kämpfen Carl und Steven um ihr wirtschaftliches Überleben. Beide Mitte 30, gezeichnet von beruflichen Misserfolgen, gescheiterten Beziehungen und mit der Verantwortung für Kinder aus längst geschiedenen Ehen, schlagen sich die beiden mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durch, bis sie ein Deal mit dem lokalen Mafiaboss Mario Vaillancourt auch moralisch an den Rand des Abgrunds bringt. Verfasst im lokalen Dialekt der Ostquebecer Region Beauce, zeigt Cloutiers Text, wie sich unter wirtschaftlichem Druck auch die letzten solidarischen Bande von Familie, Freundschaft und Klassensolidarität auflösen.
Im krassen Gegensatz dazu scheint die experimentelle Textfläche „Auf der einen Seite weint der Auerhahn, auf der anderen versinkt das Sofa“ der in Belgien lebenden Französin Marie Henry zu stehen. Die Autorin, die merklich eher aus dem Bereich der transdisziplinären Performance stammt als aus einer klassischen Theatertradition, wirft einen distanzierten, analytischen Blick auf klassische Geschlechterrollen, irgendwo zwischen Bourdieu und der frühen Elfriede Jelinek. Die Situation ist banal: Ein junges Paar trifft freitagabends in einer Kneipe aufeinander, der klassische Flirt scheitert, am Ende steht der blanke Hass, bis beide Protagonisten von den sie umgebenden Objekten verschlungen werden. Gerade durch das vollkommene Ausklammern sozialer Realität schafft der Text eine erdrückende Atmosphäre der Determiniertheit, aus der nur der versponnen-surreale Humor der Autorin einen Ausweg zu bieten scheint.
Wesentlich klassischer, dafür jedoch inhaltlich überaus komplex präsentiert sich „Falschleben“, ein Stück der Schweizer Theatermacherin Valérie Poirier. Scheinbar naiv und sentimental zwischen Zeitebenen hin- und herspringend, fächert sie anhand eines familiären Einzelschicksals die schmerzhaften Konsequenzen des Algerienkrieges auf, der in Frankreich bis heute ein Tabu ist. Kurz vor Kriegsende, im Jahre 1961 flieht die junge Mutter Arlette mit ihrem Sohn Nadji eben nicht zu ihrer Familie nach Frankreich, sondern zu Verwandten in der Schweiz. Der Kontrast zwischen mediterraner Leidenschaft, Lebenslust und Melancholie und der Ordnung und Kälte in der neuen Heimat kristallisiert sich im Erleben des Sohns, der von der Mutter zu Integrationszwecken kurzerhand den mehrheitsfähigen Namen „Jean-Paul“ verpasst bekommt. Nadji, der „falsche Jean-Paul“ erlebt das Exil als fatale Fehlentscheidung („Falschleben“), die seine Mutter schließlich in den Alkohol, in wirtschaftliche Abhängigkeit und wahllose Liebesabenteuer treibt. Erst viele Jahre später gelingt es ihm, die Wunden des Kolonialkonflikts im Kleinen zu heilen, indem er die Urne seiner Mutter unter einer Zypresse bestattet. Sprachlich einfach gehalten, von Schlagern aus den 1960ern gerahmt, vermittelt „Falschleben“ einen anrührenden Eindruck von den Absurditäten der europäischen Migrationsgeschichte.
Auch der zweite Text aus Belgien, „Umarmungen im Dunkeln“ von dem Autor und Dramaturgen Thomas Depryck, scheint den direkten Blick auf soziale Realitäten zu vermeiden. Ähnlich wie Marie Henry stellt er traditionelle Geschlechterkonstruktionen auf den dramatischen Prüfstand. Dabei wirkt sein Stück eher wie beliebig einsetzbares Material für eine Inszenierung als wie ein geschlossener Theaterkosmos. Vier Stimmen, mit A, B, C, D, bezeichnet, liefern, in Monologen, Dialogen und chorischen Passagen, ein impressionistisches Tableau zeitgenössischer Beziehungswirren. Alkohol, Drogen, Verdauungsprobleme und existenzielle Angst stehen hier neben softpornographischen Sex-Fantasien und soziologischer Analyse. Als roter Faden durchziehen den gesamten Text die Fragen, ob der Rückzug in die Paarbeziehung einen Ausweg aus der Realität bieten kann, und ob sich in einer durchökonomisierten Gesellschaft Begehren wirklich leben lässt.
„Suzy Storck“ von der französischen Dramatikerin Magali Mougel setzt dem sowohl formal als auch inhaltlich ein geschlossenes, ja erdrückendes Universum entgegen. In einer Variation über den Medea-Mythos rückt die Autorin eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen in den Mittelpunkt, die sich weigert, die ihr von der Gesellschaft zugewiesene Rolle der Hausfrau und Mutter auszufüllen. In einer kargen, repetitiven, formal zugespitzten Sprache entwickelt Mougel eine Art Oratorium des bewussten Scheiterns. Suzy Storck, Angestellte in einer ostfranzösischen Geflügelfabrik, begräbt ihre persönlichen Ambitionen und wird Frau des Arbeitskollegen Hans Vassili Kreuz, dem sie nach freudlosem Koitus drei Kinder gebiert. Da ihr sowohl ihr Mann als auch ihre Mutter die Aufnahme jeglicher Berufstätigkeit verweigern, verfällt sie in eine Art depressiver Verweigerungshaltung, die schließlich zum Tod eines ihrer Kinder durch Vernachlässigung führt. Der starke formale Zugriff der Autorin bewahrt den Text vor dem Abgleiten ins Sozialdrama und verleiht ihm durch den Rückgriff auf Elemente der klassischen Tragödie zusätzliche gesellschaftliche Sprengkraft. Im Spannungsfeld zwischen karger Sprache am Rande der Ausdrucksfähigkeit, eingerahmt vom unablässig kommentierenden Chor, wird deutlich, dass es Mougel hier nicht um ein weibliches Einzelschicksal geht. Thema des Textes ist auch der Niedergang der „Arbeiterklasse“, der in der heutigen Realität jegliche Perspektive fehlt. Ohne politisches oder soziales Projekt erstickt hier buchstäblich ein Milieu an sich selbst und am Mangel an Möglichkeiten gesellschaftlicher Einflussnahme.
Einen anderen, auf den ersten Blick stärker dokumentarischen Blick auf das Arbeitermilieu wirft der Schweizer Jérôme Richer. Sein Text „Neue Welt“ nimmt eine eigenartige Zwischenstellung zwischen Realismus und behutsam geformter, leicht romantisierter Fiktion ein. In das geschlossene Universum einer Fabrik bricht ein junger Zeitarbeiter ein, der die resignierten Protagonisten dazu bringt, über ihre Realität und ihre längst vergessenen Ambitionen zu reflektieren, bis er schließlich durch einen Arbeitsunfall „unschädlich“ gemacht wird. Alltagssprache, Lyrismen und soziale Analyse stehen auch hier nebeneinander, jedoch ohne eine abstrahierende oder zuspitzende Form.
Bewusst für das Format der Komödie im TV-Sitcom-Stil entschieden hat sich die Quebecerin Catherine Léger. Ausgehend von dieser leicht verdaulichen massentauglichen Form serviert sie ein subversives Trommelfeuer an Fragen zur gesellschaftlichen Konvention in den Bereichen Arbeit und Familie. Nachdem der etwas einfältige Macho Cédric vor laufender Kamera eine Sportreporterin sexistisch beleidigt hat und daraufhin zur millionenfach geklickten Youtube-Sensation wird, verliert er seinen Job und muss zu Hause über seine Sünden nachdenken. Sein Bruder, der linke Journalist Jean-Michel, überredet ihn dazu, gemeinsam über die uneingestandene Frauenfeindlichkeit eines jeden Mannes zu reflektieren und ein Buch zu verfassen, das sich ambitioniert als kollektive Entschuldigung an ALLE Frauen versteht. Allerdings haben die beiden Herren die Rechnung ohne die real existierenden Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts gemacht. Während das Schreibprojekt unfreiwillig immer sexistischer wird, erprobt Cédrics Frau Nadine, unterstützt von der Babysitterin Émy, die einer Männerfantasie entsprungen scheint, ihre Träume von Autorität und Unterwerfung. Obwohl Léger aus einem eindeutig Quebecer Kontext heraus schreibt – dem Spannungsfeld zwischen einem massiv zur Schau getragenen Feminismus und einer tief in der Gesellschaft verankerten „rape culture“ –, sind ihre satirischen Befragungen sexistischer Zuschreibungen von universellem Wert. Der tumbe Macho, der wohlmeinende Intellektuelle, die von Schwangerschaft und Mutterdasein erschöpfte Geschäftsfrau und die sexuelle Projektionsfläche mit dem Gesicht von Scarlett Johansson, die uneingestandene Triebe weckt – hinter all diesen klischeebeladenen Abzieh bildern stehen wesentliche gesellschaftliche Fragen.
Eindeutig in einer literarischen Tradition verorten lässt sich der letzte Text unserer Auswahl. Bei der Lektüre von Guillaume Poix’ Globalisierungstragödie „Waste“ denkt man an Bernard-Marie Koltès und an das wütend verzerrte Argot des umstrittenen Romanciers Louis-Ferdinand Céline. Auf der „Wölbung“, einer riesenhaften Deponie aus Computerschrott am Hafen der ghanaischen Hauptstadt Accra, leben die Menschen buchstäblich im und vom Müll. Erzählt wird die Geschichte dreier Freunde, Jakob, Isaak und Moses, die sich und ihre Familie durch kleine Deals über Wasser halten und schließlich in die Prostitution geraten. Kurz nachdem Moses an einem mörderischen Hustenanfall verendet ist, wird Jakob von seinem Kunden ermordet und im Müll verscharrt. Isaak kann zuletzt nur noch die Leichen der beiden Freunde auf eine letzte Reise schicken. „In der Hölle gibt’s kein Freibier“, beschreibt der Kleinganove Wisdom die infernalische Realität auf der „Wölbung“. Nichts ist in dieser harten Welt umsonst – für alles muss es stets eine Gegenleistung geben, sei es in Form von Geld, Sex oder Anerkennung. „Waste“ ist in einem hochartifiziellen Slang verfasst, in dem sich Englisch, Spanisch und Argotfranzösisch zu einem manchmal lyrisch-überbordenden, manchmal verknappt lakonischen Maelstrom vermischen. Poix’ Meisterschaft zeigt sich darin, dass sein Text weder in den totalen Manierismus abkippt noch sich als realistisch-politische Anklageschrift lesen lässt. Gerade dadurch, dass es der Heterogenität, quasi dem Müll selbst, eine Stimme verleiht, weist das Stück über eine simple Globalisierungskritik hinaus.
So verschieden die acht vorgestellten Texte auch sein mögen – allen ist eines gemeinsam: ihre spürbare Nähe zur Praxis. Fabien Cloutier und Valérie Poirier sind ursprünglich ausgebildete Schauspieler, Thomas Depryck, Guillaume Poix und Magali Mougel arbeiten aktiv immer wieder als Produktionsdramaturgen, Jérôme Richer inszeniert seine Texte mit seiner eigenen Compagnie, Marie Henry performt für belgische Theaterkollektive und erarbeitet nebenbei hybride Bild-Text-Klang- Installationen und Catherine Léger ist gleichzeitig als Scriptwriterin für Film und Fernsehen tätig. Keiner unserer Autoren zieht sich in den Elfenbeinturm der abgehobenen literarischen Textproduktion zurück. Diese spürbare praktisch-pragmatische Erfahrung macht ihre Stücke extrem bühnentauglich und bringt die teilweise doch recht sperrigen Themen dorthin, wo sie hingehören: in den Dialog mit einem Publikum, das Interesse an gesellschaftlichen Diskussionen hat.
Und damit scheint auch die große Ausgangsfrage dieser Auswahl beantwortet: Wir wünschen uns, dass die Texte dieser 20. Ausgabe von SCÈNE im deutschen Sprachraum auf ein interessiertes Publikum treffen und ein wenig zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten beitragen.
Nicht mehr und nicht weniger.
In diesem Sinne: bonne lecture!
Im Juli 2017