Theater der Zeit

Theaterwissenschaft

Theatermusik ist Aufführungsmusik

These 1/10

von David Roesner

Erschienen in: Recherchen 151: Theatermusik – Analysen und Gespräche (11/2019)

Assoziationen: Wissenschaft

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Die nun folgenden Thesen versuchen, eine Reihe allgemeinerer Entwicklungen und Tendenzen der Ästhetik und Entstehungsprozesse von Theatermusik vor allem im deutschsprachigen Theater pointiert aufzuzeigen. Dabei ist unvermeidlich, dass diese Thesen Abstrahierungen sind, die sich zwar durch viele Beispiele stützen lassen – kurze exemplarische Analysen mögen hierbei zur Veranschaulichung dienen –, für die aber natürlich immer auch Gegenbeispiele zu finden wären.

These 1:
Theatermusik ist Aufführungsmusik

Mit dieser Formulierung greife ich eine These von Ursula Kramer auf, die in ihrem Sammelband Theater mit Musik die (historische) Schauspielmusik unter anderem von der Oper abgrenzt. Sie schreibt, dass mit der »Flüchtigkeit des Mediums Schauspielmusik« ihr Status eines »Aufführungstextes« korrespondiere – »im Gegensatz zum ›Werktext‹, wie ihn Goethe für die Oper realisiert sah«62. Dem ist meines Erachtens zuzustimmen, ich würde jedoch noch eine weitere Differenzierung anschließen: Die wenigen weithin bekannten Schauspielmusiken in der Geschichte dieser Gattung (allen voran Beethovens Musik zu Goethes Egmont [1809], Mendelssohns Musik zu Shakespeares Ein Sommernachtstraum [1826/43] und Griegs Musik zu Ibsens Peer Gynt [1876]) waren primär auf die dramatische Vorlage bezogen und von ihr inspiriert. Oft wurden sie für eine Reihe unterschiedlicher Inszenierungen herangezogen und entwickelten ein unabhängiges Eigenleben als Konzertstücke. Sie sind in dieser Hinsicht wesentlich stärker ›werkhaft‹ als heutige Theatermusik. Diese ist kaum mehr Musik zum Drama (und potenziell unabhängig von einer konkreten Inszenierung), sondern zumeist Aufführungsmusik – ephemer und unwiederholbar. Theatermusik ist heute in der Regel auf das Konzept einer Inszenierung maßgeschneidert, welche ihrerseits mal mehr und mal weniger auf einem dramatischen Text basiert. Diese Theatermusik beansprucht – mit Ausnahme einiger Demo-CDs, Websites, Hörproben auf MySpace und Spotify-Playlists – auch keine Autonomie.63

Die Werkhaftigkeit wird nicht nur in Bezug auf die Autonomie der Theatermusik, sondern auch hinsichtlich ihrer Gestalt häufig infrage gestellt. In gewisser Hinsicht handelt es sich bei Theatermusik um eine Musik als »Möglichkeitskonzept«64, die zu keinem Zeitpunkt zu einer finalen Fassung findet. Jede Aufführung artikuliert eine Möglichkeit in einem intentional definierten Spektrum von Musiken. Dieses Spektrum kann enger oder weiter gefasst sein – zentral ist aber, dass hier die Idee einer Potenzialität von Musik zum Ausdruck kommt, die gar nicht in einer ideal imaginierten Gestalt vorliegt oder gedacht wird, sondern sich Abend für Abend im Zusammenspiel zwischen Bühne, Musik und Zuschauern neu generiert.

 

 


 

61Die folgenden Textabschnitte basieren zum Teil auf einer früheren Publikation bei der online-Zeitschrift etum, die nach wenigen Ausgaben eingestellt und aus dem Netz genommen wurde.

62Kramer: Theater mit Musik, S. 10.

63Im Gegensatz dazu gibt es im Bereich der Filmmusik eine Vielzahl von Veröffentlichungen des »Original Motion Picture Soundtrack« als CD/Audio Download, mitunter sogar als Noten zum Nachspielen – populär waren hier z. B. die Klavierbearbeitungen von Die fabelhafte Welt der Amelie (Yann Tiersen) und Das Piano (Michael Nyman).

64Melanie Fritsch verwendet diesen Begriff in Bezug auf Videospielmusik, wo er eher auf die Möglichkeiten der Spieler*innen abhebt, im Rahmen des Gamedesign Musik spielerisch hervorzubringen bzw. zu gestalten (siehe Fritsch, Performing Bytes, S. 97).

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