Theater der Zeit

2.1.1 Von der Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum zum geteilten Erfahrungsraum

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

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Ob beim Social Bootcamp vom Social Muscle Club oder Lies von Ontroerend Goed, bei denen Zuschauer*innen in kleinen Gruppen gemeinsam an Tischen sitzen und bestimmte Aufgaben miteinander lösen;

ob bei Game-Theater-Formaten wie Spiel des Lebens von Prinzip Gonzo, Disaster von Machina Ex, Dirty Faust von Nesterval oder World to come von komplexbrigade, bei denen teilnehmende Zuschauer*innen analog zu Open-World-Computerspielen eine gestaltete Weltversion erkunden können und dabei mit einem kollektiv oder einzeln zu erfüllenden Spielauftrag belegt werden;

ob bei interaktiven, gleichfalls spielförmigen Formaten wie Roger Bernats Pendiente de Voto oder Interrobangs To like or not to like, die ihre teilnehmenden Zuschauer*innen dazu einladen, über bestimmte Prozesse oder Personen unter Einbeziehung einer künstlichen Intelligenz gemeinsam und/oder einzeln abzustimmen;

ob in begehbaren Rauminstallationen wie Exhibit A oder Sanctuary von Brett Bailey sowie Overmorrow, die das Ausstellungsdispositiv bildender Künste aufnehmen, um Zuschauer*innen zu vereinzelten Betrachter*innen menschlicher ›Exponate‹ zu machen;

ob bei Audiowalks im Stadtraum wie Rimini Protokolls Remote Berlin oder der Anstattführung von hannsjana, bei denen Wahrnehmungen auf den Stadtraum spielerisch verfremdet werden;

ob bei sozialen Choreografien delegierter Zuschauer*innen-Körper, zu denen in x groove space von Sebastian Matthias sowie LIGNAs Zerstreuung überall oder auch Rausch und Zorn angeregt wird;

ob in einer queeren Performance wie The Miracle of Love von Daniel Cremer, in die Zuschauer*innen durch die Partizipation an Ritualen einbezogen werden;

ob in Performances wie Philippe Quesnes David Foster Wallace Center, Hans-Peter Litschers Goethes Zebra, Mona el Gammals Rhizomat, bei denen Zuschauer*innen Gast fiktiver Institutionen werden;

ob bei ›human specific‹40-Performanceinstallationen wie Julian Hetzels Still oder Earthport von Nora Amin und Eva Isolde Balzer, die aus zeitlich begrenzten One-on-Ones bestehen;

ob bei multimedialen Kindertheater-Formaten wie posttheaters I in Wonderland oder Dans la forêt von Milimbo, bei denen Kinder einen Parcours fantasievoll eingerichteter Räume durchschreiten;

oder ob bei Performanceinstallationen wie Thomas Bo Nilssons Meat oder Dekameron sowie The Shells – Ausflug nach Neu-Friedenwald von Brandt/Porath, bei denen Zuschauer*innen für die Dauer mehrerer Stunden mit allen Sinnen in eine modellhafte und fiktionalisierte Lebenswelt einbezogen werden – all diese Produktionen, die als Beispiele jenes breiten Trends partizipativen Gegenwartstheaters im starken Sinne angeführt werden können, haben eine signifikante Veränderung der räumlichen und damit auch der kommunikativen Struktur zwischen Publikum und Bühnenraum gemeinsam: Performer*innen und Zuschauer*innen teilen sich nunmehr den Bühnenraum.

Künstlerische Gegenentwürfe zum bürgerlichen Illusionstheater mit seiner Trennung von Bühne und Zuschauerraum finden sich – in gesellschaftspolitisch, ideologisch und ästhetisch je variierender Weise – bereits bei den Futuristen, im Dadaismus, in der surrealistischen Bewegung, in der Theaterarbeit des russischen Regisseurs Wsewolod E. Meyerhold, bei ausgewählten Architekten und Lebensreformkünstlern des Bauhaus wie Walter Gropius und Oskar Schlemmer sowie politischen Theaterreformern der zwanziger und dreißiger Jahre wie Max Reinhardt, Georg Fuchs, Erwin Piscator und Bertolt Brecht.41 Gemeinsam ist ihnen das Streben nach einer Aktivierung des Publikums, die zuvorderst mit einer räumlichen Veränderung der theatralen Kommunikationssituation erreicht werden sollte. Die angestrebte Aktivierung wurde dabei als Mobilisierung im Raum, nicht selten aber auch mit einer damit verbundenen politischen Emanzipation des Publikums konzipiert.

Auch Künstler wie Allan Kaprow, der Ende der fünfziger Jahre ebenso wie Claes Oldenburg oder Jim Dine mit ihren »Environments« und »Happenings« zwei neue Formen installativer, begehbarer und in Teilen auch partizipativer Kunst begründeten, waren hinsichtlich der Aktivierung der Zuschauer*innen bzw. Betrachter*innen von historischen Strömungen wie dem Futurismus und Dadaismus (vgl. Reiss, 1999, S. 7f.), aber auch von den raumgreifenden, bildkünstlerischen Strategien der Assemblagen und des Action Paintings beeinflusst. Es handelt sich bei Environments wie z. B. Kaprows Words (1962) oder 18 Happenings in 6 Parts (1959) um installative Arbeiten, die ihre Objekte, Assemblagen oder Situationen nicht mehr nur präsentieren, sondern mit ihnen als Bestandteile ganzer sites auch danach strebten, bestimmte Handlungsvollzüge seitens der Betrachter*innen in Gang zu setzen (vgl. dazu ebd., S. 4). Anstatt das Kunstwerk nur aus gesicherter Distanz zu beobachten, sollten Betrachter*innen die Möglichkeit bekommen, in den gestalteten Raum ganz einzutreten, wodurch die multisensorische Dimension zum integralen Bestandteil des Rezeptionsprozesses wurde. Kaprow prägte hierfür den geflügelten Ausspruch: »Go in instead of looking at« (ebd., S. 24).42

In feministischen Happenings wie Meat Joy (1964) von Carolee Schneemann, Ritual Meal (1969) von Barbara T. Smith oder in Performances wie Paradise Now (1968) von The Living Theatre oder Dionysus in 69 (1970) von Richard Schechner/The Performance Group trat neben die räumliche und zuweilen handlungsorientierte Involvierung dann insbesondere auch eine intensive leibliche Involvierung in kollektive, rituelle Aufführungspraktiken. Im Schreiben über seine eigenen künstlerischen Arbeiten prägte Richard Schechner 1973 mit Rekurs auf Allan Kaprow das Environmental Theatre. Auch ihm ging es dabei um eine systematische Neukonfiguration von (ein- und umschließendem) Raum und am Aufführungsgeschehen beteiligten Zuschauer*innen, die nicht zuletzt auch politisch begründet und motiviert war.

Der Kunstwissenschaftler Oskar Bätschmann hat im Rückblick auf die leibliche und affektive Einbeziehung von Rezipierenden in Installationen und Performances der fünfziger und sechziger Jahre den Begriff der »Erfahrungsgestaltung« geprägt:

Erfahrungsgestaltung ist auf die Bereitstellung von Vorrichtungen, Einrichtungen oder Objekten gerichtet, die das Publikum von Ausstellungen mit einer unerwarteten Situation überraschen oder in einen Vorgang einbeziehen und dadurch einen Prozess der Erfahrung auslösen. […] Im Unterschied zur herkömmlichen Auffassung, die im Werk ein Ziel sieht, betrachtet Erfahrungsgestaltung die Installation als Mittel zur Auslösung eines Erfahrungsprozesses. Sie impliziert den schwierigen Wandel des Publikums zum aktiven (wenn auch nicht unproblematischen) Partner und richtet sich auf Partizipation und Einbezug durch Einladung, Verlockung, Überwältigung, Schock und Gefährdung (Bätschmann, 1997, S. 232, Hervorhebung TS).

Am Beispiel von Bruce Naumans Rauminstallationen, auf die sich Bätschmann u. a. bezieht, hieße dies, dass der*die Rezipierende eingeladen wird, mit dem Durchschreiten der Korridore eine bestimmte Erfahrung zu machen, die aus ebendieser Begegnung von Besucher*in und gestalteter site hervorgeht und sich als »Überwältigung, Schock oder Gefährdung« affektiv und viszeral zu äußern vermag. Das Kunstobjekt steht dem*der Rezipierenden nicht mehr gegenüber, kann nicht aus der Distanz betrachtet und erfasst werden, sondern schließt die körperliche Erfahrung des*der Rezipierenden konzeptionell mit ein. Der Körper der Rezipierenden wird dabei zum Medium lebensweltlicher Erfahrungen und gelebter Erfahrungsprozesse im Rahmen von Kunst. Hier schließt sich der Bogen zu Machons Akzentuierung einer »live(d) experience« im »immersive theatre« (vgl. Kap. 1.3).

Auch die veränderten Aufführungsdispositive im partizipativen Gegenwartstheater öffnen Erfahrungsräume für die verschiedentlich involvierten Zuschauer*innen. Soziale Erfahrungen von Kollektivität, Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Fremdheit und/oder Vereinzelung werden je nach Produktion zum Gegenstand der künstlerischen Arbeit und werden dabei von den involvierten Zuschauer*innen selbst durchlebt. Es gilt, nicht mehr anderen beim Ausführen von Handlungen, Bewegungen oder Begegnungen zuzuschauen, sondern ebensolche am und mit dem eigenen Leib selbst zu vollziehen – eben: gelebte Erfahrungen in einem künstlerisch entworfenen Aufführungskontext zu machen. Auf diese Weise kommt es zur Grenzverwischung zwischen Modalitäten des Zuschauer*in- und Akteur*in-Seins und es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem, was künstlerisch inszeniert und gestaltet ist, und dem, was sich der Inszenierung durch soziale Kontingenz entzieht.

Theaterwissenschaftler Jan Deck hat den Begriff des Erfahrungsraums bereits im Zusammenhang mit postdramatischen Theaterarbeiten der nuller Jahre vorgeschlagen (vgl. Deck/Sieburg, 2008, S. 15): Für Deck werde postdramatisches (und auch, aber nicht notwendigerweise partizipatives) Theater »zu einem Erfahrungsraum, in dem der Zuschauer sich seine eigene Bedeutung ständig neu schafft, indem er die wahrgenommenen Ereignisse zu seinem eigenen Rezeptions-Patchwork zusammenfügt« (ebd., S. 17). Dieses Verständnis setzt allerdings die (inter-)aktive, physische Beteiligungserfahrung der Zuschauenden nicht voraus und schließt eher an ästhetische Modalitäten schwacher Partizipationserfahrung an. In ähnlicher Weise haben auch Benjamin Wihstutz und Jörn Schafaff den Begriff des Erfahrungsraums zuvorderst als ein »Reflexionsinstrument« (Schafaff/Wihstutz, 2015, S. 112) vorgeschlagen, welches begrifflich jenes »Spannungsfeld fokussier[e], das sich zwischen Selbst- und Weltbezug, zwischen sinnlichem Erleben und gedanklicher Reflexion, zwischen Immersion und Distanzierung, zwischen Wirklichkeit und Illusion oder Präsenz und Repräsentation aufspann[e]« (ebd., S. 113) – und damit auch auf Wihstutz’ Konzeption einer ästhetischen Erfahrung als Schwellenerfahrung rekurriert (vgl. Wihstutz, 2012, S. 102ff.). Bei den Erfahrungsräumen, die immersive Aufführungsdispositive öffnen, geht es allerdings zuvorderst um das konkrete Erleben einer oder mehrerer Situation(en), die eben für die Zuschauer*innen-Erfahrung eingerichtet sind. Es handelt sich bei ihnen – wie auch Christel Weiler dies am Beispiel der Performanceinstallation Earthport ausführt – um die aufführungsbezogene Entfaltung eines interaktiven Beziehungsgeschehens (vgl. Weiler/Roselt, 2017, S. 362), in das die Zuschauer*innen eingelassen werden und (wie im Fall von Earthport) über die zahlreichen Begegnungen von Selbst und ›Anderen‹ konkrete lebensweltliche Erfahrungen von ›Fremdheit‹ im künstlerischen Kontext gemacht werden (ebd., S. 341), wodurch zuvorderst eine Form der Selbst-Reflexion in Gang gesetzt wird.43

Was für Erfahrungsräume immersiver Theaterdispositive entscheidend ist, ist die Asymmetrie zwischen beteiligten Performer*innen und involvierten Zuschauer*innen. Es sind keine alltäglichen sozialen Räume, sondern es handelt sich um ästhetisch gerahmte und künstlerisch gestaltete Räume, die Zuschauer*innen auf je bestimmte und bestimmende Art und Weise zu involvieren, gelegentlich auch gezielt zu manipulieren suchen. Im Sinne eines dominanten Motivs des Immersionsdiskurses sind sie für Zuschauer*innen eingerichtet, damit diese etwas intensiv erleben, das mit einer Grenzerfahrung (zwischen Zuschauer*in- und Teilnehmer*in-Sein, zwischen ästhetischer und sozialer Erfahrung, zwischen Inszenierung und Wirklichkeit) und damit im Sinne Freydefonts/Sermons mit einer systematischen Desorientierung und Verunsicherung einhergehen kann. Die Tatsache, dass die von den Aufführungen eröffneten Erfahrungsräume in komplexer Weise miteinander geteilt werden, nicht nur im Sinne menschlichen sozialen Miteinanders, sondern auch als Mit- und Ineinander-Wirken von nicht-menschlichen Aktanten, verweist auf die für den Erfahrungsschatz der Zuschauenden konstitutive Dimension der Relationalität.

40 In Anlehnung an die Bezeichnung site-specific (ortsspezifisch) wählen die beiden Performance-Macherinnen Nora Amin und Eva Isolde Balzer für ihre Produktion den Begriff human-specific, insofern es um die spezifischen Geschichten und Begegnungen mit den beteiligten Performer*innen Pasquale Virginie Rotter, Adel Abdel Wahab, Shehab Ibrahim, Adham El-Said, Omar El-Moutaz Bel’lah, Maha Omranund geht.

41 Für einen historischen Überblick der jeweiligen Reformmodelle und theoretischen wie praktischen Entwürfe ausgewählter Künstler*innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe Nam, 1997. Für einen besonderen Fokus auf die Rolle der Theateravantgarden bei diesem Paradigmenwechsel, den Erika Fischer-Lichte als titelgebende »Entdeckung des Zuschauers« bezeichnet, siehe Fischer-Lichte, 1997, insbesondere S. 9 – 38.

42 Die von Thomas Oberender und seinem Team kuratierte Veranstaltungsreihe Immersion nahm die Kaprowsche Sentenz an prominenter Stelle auf und setzte sie den präsentierten Arbeiten gleichsam als Motto voran, vgl. Oberender, 2017, S. 3.

43 Theaterwissenschaftlerin Liesbeth Groot Nibbelink schlägt am Beispiel der Produktionen von Ontroerend Goed den Begriff des »Erfahrungstheaters« (ervaringstheater) vor. Dieses zeichne aus, dass es zu einer intimen und/oder sensorischen (Selbst-)Erfahrung der beteiligten Zuschauer*innen komme, vgl. Groot Nibbelink, 2012, S. 416.

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