Theater der Zeit

Stück

Reformation auf Plattdeutsch

Holger Teschke über sein neuestes Stück „Leben und Sterben des Kaplans Joachim Slüter zu Rostock“ im Gespräch mit Gunnar Decker

von Holger Teschke und Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)

Assoziationen: Dramatik Volkstheater Rostock

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Holger Teschke, den Reformator Johannes Bugenhagen, der besonders in Pommern missionierte und darum den Beinamen Doctor Pomeranus bekam, kennt man als Weggenossen Luthers, doch der Name des Rostocker Kaplans zu St. Petri Joachim Slüter, der ab 1517 in Rostock lebte und dort auch 1532 starb, war mir bislang völlig unbekannt. Wie ging es Ihnen, wie begegneten Sie Slüter?
Ich wusste, dass Slüter auf Plattdeutsch gepredigt hatte und dass es ein Gerücht gab, er sei wegen seiner radikalen Predigten vergiftet worden. 2015 kam das Angebot vom Volkstheater Rostock, ein Stück über Slüter und den Beginn der Reformation in Mecklenburg zu schreiben. Das war der Anstoß, mich intensiver mit ihm zu beschäftigen.

Wie muss man sich diesen Menschen des 16. Jahrhunderts vorstellen?
Bei meinen Recherchen zur Stückfassung von „Ingrid Babendererde“, die ich für Sewan Latchinian am Volkstheater Rostock schrieb, stieß ich im Güstrower Schloss auf eine alte Johannes-Figur aus einer Ölberggruppe, die mich an Ernst Barlachs „Lesenden Klosterschüler“ erinnerte. Ich bin davon überzeugt, dass Barlach von dieser Figur, die ein Rostocker Meister um 1430 für das Kloster Dobbertin schuf, inspiriert wurde. Es ist der verinnerlichte Typus eines Gläubigen, der ganz die unio mystica, die Einheit mit Gott, verkörpert. Das, was die Repräsentanten der alten Kirche abfällig einen Schwärmer nannten. Gleichzeitig ist er aber auch ein radikaler Evangelist, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Mann wie Thomas Müntzer.

Auf welches Material konnten Sie zurückgreifen?
Die Theologen der Rostocker Universität haben mich bei der Arbeit von Anfang an sehr unterstützt. Es gibt in Rostock eine bedeutende Slüter-Spezialistin, Sabine Pettke, die viel über ihn geforscht und mir ihre Aufsätze geschickt hat. Auch Karsten Schröder vom Stadtarchiv machte mir viele Quellen aus der Zeit zugänglich, darunter eine Historie über Leben und Lehren Slüters von Nikolaus Gryse von 1593. Da bekam die Figur eine Gestalt jenseits der Legenden, und es zeigte sich, wie verstrickt Slüter in die politischen und ökonomischen Kämpfe seiner Zeit war. Diese Konflikte haben mich besonders interessiert, weil sie Slüter als Figur im großen Spiel der Macht zwischen den Herzögen, der Hanse und der Kirche zeigen.

Es ging also auch um Politik und Einflusssphären?
Der mecklenburgische Herzog Heinrich V. wollte vor allem den Einfluss der Hanse begrenzen und der Stadt Rostock einen Lutheraner in den Pelz setzen, um so einen Fuß in die Stadtpolitik zu bekommen. Der Hanse ging es um den Heringshandel und um Expansion, also Wachstum. Kaiser und Papst schürten die Angst vor den Türken, die nach dem Fall Belgrads 1521 auf dem Weg nach Europa waren. In diesem Schachspiel der Mächte wurde Luther eigentlich von Sultan Süleyman I. vor Kaiser und Papst gerettet, weil die vor den Türken mehr Angst hatten als vor einem ketzerischen Mönch in Wittenberg.

Wie reagierte Luther auf jemanden wie Slüter?
Slüter war ihm unheimlich, ein Schwärmer, der ihn an Thomas Müntzer erinnerte. Er predigte den Armen in ihrer Sprache und forderte nicht nur eine neue Kirche, sondern auch soziale Gerechtigkeit. Als Luther das zu Ohren kam, riet er dem Rostocker Rat, Slüter umgehend aus der Stadt zu jagen.

Die Dialoge zwischen Bugenhagen und Slüter lesen sich unerhört aktuellund wenn man 500 Jahre Reformation feiert, dann sollte man auch deutlich machen, was man darunter versteht. Ich finde, das wird in Ihrem Stück sehr klar gesagt. Luther und Bugenhagen stehen für die protestantische Gegenkirche, einen Machtfaktor im Spiel der Kräfte. Aber Slüter steht für das Prinzip der Freiheit des Christenmenschen, der in seiner Unmittelbarkeitsbeziehung zu Gott keine Vermittlungsinstanz, also eigentlich auch keine Institution Kirche mehr benötigt.
Das ist der entscheidende Punkt. Slüter predigte im Freien, weil er so viel Zulauf hatte, dass die Menschen nicht mehr in der Kirche von St. Petri Platz fanden. Und er predigte auf Plattdeutsch, damit ihn die einfachen Leute, die nicht nur kein Latein, sondern auch kein Hochdeutsch konnten, verstanden. Er brachte ein plattdeutsches Gesangbuch heraus, in dem nicht nur Verse von Luther, sondern auch von Müntzer vorkommen, was ziemlich mutig war. Slüter verehrte Luther, auch noch nach 1525, und wollte ihm in vielem nacheifern. So heiratete er 1528, und seine Braut hieß wie die von Luther, nämlich Katharina. Luther gefiel solcherart naive Glaubensunbedingtheit überhaupt nicht.

Das klingt nach Ernst Blochs Sozialutopie von der armen Kirche, fast schon nach Befreiungstheologie. Oder anders gesagt: nach Ketzerei!
Deshalb haben die katholischen Theologen der Rostocker Universität Slüter auch zweimal zu einer Disputation aufgefordert, um ihn der Ketzerei zu überführen. Das verhinderte der Rostocker Rat, der keinen Märtyrer wollte. Für Slüter war immer klar, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt.

Was bei den Feiern zu 500 Jahre Reformation ziemlich untergeht, ist ja, dass Luther allein nicht die Reformation repräsentiert. Ist sein Misstrauen gegen die Prediger der Armen nicht bezeichnend?
Brecht sprach ja davon, dass mit der Niederlage der Bauern um Müntzer der Reformation der Reißzahn gezogen wurde. Vom Schlachtberg in Frankenhausen führt eine Blutspur durch die deutsche Geschichte, bis zur Novemberrevolution 1919 und weiter bis 1933. Slüter gehört wie Müntzer zu Blochs „Geist der Utopie“.

Bleibt Luther immer eine Art drohender Schatten im Hintergrund?
Er wird mehr und mehr zu einer Art Gegenpapst, der die eigenen Dogmen für unfehlbar erklärt und der Freiheit des Christenmenschen immer engere Grenzen zieht.

Im Stück finden sich Charakterisierungen Rostocks, die wie aus einer Mentalitätsgeschichte zu stammen scheinen: „In Rostock ignorieren sie sogar den Weltuntergang.“ Oder: „Rostock braucht keine Reformation.“ Wie waren die Erfahrungen mit der Stadt, als es um das Slüter-Projekt ging?
Ich hatte den Eindruck, dass man das Stück trotzdem zeigen wollte. Allerdings plante die Stadt anfangs eine Art Festspiel zu Slüter, was mich nie interessiert hat. Ich hätte das Stück gern in St. Petri, wo Slüter Kaplan war, und im benachbarten St. Nikolai, wo seine katholischen Widersacher saßen, spielen lassen. Auf dem Alten Markt wäre Raum für die Volksszenen gewesen. Das scheiterte angeblich am Geld. Nun soll es im Kloster zum Heiligen Kreuz und in der Universitätskirche aufgeführt werden, so Gott will.

Das Stück ist ein Volksstück, auch ein Spektakel, trotz aller politischen und theologischen Debatten. Dachten Sie dabei auch an Hanns Anselm Pertens Spektakel „Klaus Störtebeker“ nach KuBas dramatischer Ballade, das er Ende der fünfziger Jahre und dann noch einmal Anfang der achtziger Jahre in Ralswiek auf Rügen herausbrachte?
Man kann von KuBa und von Perten halten, was man will, aber die Figur des Störtebeker haben sie in einen klaren Kontext zur sozialen Frage gestellt und dabei auch ihre Widersprüchlichkeit aufgezeigt. Es war mir bei Slüter wichtig, die Widersprüchlichkeit seiner Position deutlich zu machen: der Reformator, der erkennt, dass die Reformation auf halbem Wege stehen bleibt. Dafür kann das Spektakel eine Form sein.

Nun geht es nicht nur um einen Kaplan, der darum kämpft, auf Plattdeutsch zu predigen und geistliche Lieder zu singen, auch im Stück selbst wird an nicht wenigen Stellen plattdeutsch gesprochen. Versteht man das noch in Rostock?
Das will ich hoffen. Ich selbst bin zweisprachig aufgewachsen und spreche mit meiner Mutter immer noch platt. Wichtig war mir vor allem der Gestus des Plattdeutschen, sein Humor und sein Realismus. Brecht spricht von der Direktheit des Dialekts, und Plattdeutsch transportiert auf poetische Weise die Erfahrung der unteren Klassen durch die Jahrhunderte. Darin ist auch Slüters Sprache aufgehoben. Es ging mir darum, ihr in diesem Jubiläumsjahr wieder eine Bühne zu geben. Einen Ort für die vergessenen Toten, die auf ihre Rückkehr in die Geschichte warten, die seit 1525 aussteht. //

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