Auftritt
Salzburger Festspiele: Mehr Schnörkel als Substanz
„Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal – Regie Michael Sturminger, Bühne und Kostüme Renate Martin, Andreas Donhauser, Komposition Wolfgang Mitterer, Musikalische Leitung Hannes Löschel, Choreografie Dan Safer
von Sabine Leucht
Assoziationen: Theaterkritiken Österreich Michael Sturminger Salzburger Festspiele

Ziemlich viele Tücher auf der Bühne rund um den betuchten Mann, der bei den Salzburger Festspielen bereits im 104. Jahr einen Sidekick für den Gang in das Totenreich sucht. Sie wallen und wogen und verstecken anfangs den trutzburghaften Dom-Vorbau, der Jedermanns Palast darstellt. Michael Sturminger, amtierender „Jedermann“-Regisseur seit 2017, hat für seine dritte Neuinszenierung des Kultstückes auf eine Laienspiel-Anmutung gesetzt. In dem fast vollständig neu besetzten Abend kommen mit viel Gewese Leute in Schutzwesten auf die Bühne, um ein Protest-Graffito an die Fassade zu sprühen. Die Armen, die aus mit Kunstrasen-Flicken überzogenen Maulwurfshügeln kreuchen, tragen einen bunt-trashigen, dabei erstaunlich frisch gewaschen wirkenden Plastiktütenlook. Und die Familie des Schuldknechts, die offenbar eine geplatzte Immobilienblase heimatlos gemacht hat, ist in Schlaghosen und Massen von Volants gewandet. Ästhetisch regiert ein Überangebot an Geschmacklosigkeiten, inhaltlich wird vage klimakrisenhafte Gegenwart behauptet, spielerisch setzt man aufs Knallchargentum – ausgeführt von naturgemäß großen Namen. Eine seiner Meisterinnen: Sarah Viktoria Frick, die als Gott mit ihrem langen Hippie-Kleid an der maroden Welt festzukleben scheint und als hübsch fleckiger Teufel umso wildere Sperenzchen treibt. Und Bruno Cathomas und Fridolin Sandmeyer brennen als Dicker und Dünner Vetter ein dermaßen fettes Gag- und Clownerie-Feuerwerk ab, dass es selbst das Fassungsvermögen der großen Freilichtbühne sprengt.
Dagegen wirkt die Titelfigur, die nach dem androgynen Lars Eidinger und seinen eher kerligen Vorgängern erstmals Michael Maertens übernommen hat, wirklich menschlich. Maertens agiert fast zurückhaltend, mit feiner Ironie und wenigen neckischen Hüpfern. Den Armen erklärt er, wie viel Verantwortung und Folgekosten Besitz mit sich bringt - und obschon das denkbar deplatziert ist, weiß es ja jeder Gebrauchtwagen-Eigner. Und dass er seiner Mutter nicht zuhören will, als sie ihn mahnt, an sein Nachleben zu denken? Dieser Jedermann ist wie sein Darsteller nicht mal sechzig – da ist der diesseitige Spaß mit Liebe, Freundschaft, Wein und Saitenspiel üblicherweise noch lange nicht vorbei.
Die 86-jährige Nicole Heesters, die 1973 die Buhlschaft spielte, hat als Mutter eine starke Präsenz, zu der die Gebrechlichkeit, die ihr der Text anhängt, gar nicht passt. Und ist zudem derart belehrend, dass man ihr einfach Kontra geben muss. Kurzum, Maertens ist einem in der Titelrolle fast sympathisch, aber charismatisch ist er nicht. So werden die zwei Stunden auf der brettharten Domplatz-Bestuhlung schmerzhaft lang. Undenkbar, dafür 190 Euro auszugeben wie viele von denen, die sich alljährlich das Spiel vom Leiden und Sterben des reichen Mannes anschauen und vielleicht ein wenig mit-getröstet werden, wenn es das Nadelöhr ins Himmelreich doch noch entdeckt, weil er im letzten Moment zum Glauben findet. Diesmal wird ihnen zusätzlich vorgeführt, dass den Reichen die Natur schnuppe ist. Die Tischgesellschaft, die die „Letzte Generation“ bei der Premiere für eine Protestaktion nutzte, ist eine Art Picknick im Wasteland. Doch bevor es richtig losgeht, hat der Tod den Jedermann schon ereilt. Seine Begegnung mit den allegorischen Figuren ist infolgedessen voller albtraumhafter Kontraste: Die guten Werke, laut Hugo von Hofmannsthal die einzigen, die man mit ins Jenseits nehmen kann, sind eine entkräftet wirkende Gruppe weiß gekleideter Gesellen, die sich im Verbund über die Bühne schleppen. Mirco Kreibich hat einen Riesenspaß an seinem wiederholten Einsatz als Mammon-Springteufel mit goldenem Ballettröckchen und Konfettikanone. Dagegen zeigt Anja Plaschg als kalkuliert und fast kalt wirkender Glaube einen das Kostüm durchbrechenden Babybauch, steht also offensichtlich auch für die (gute) Hoffnung.
Die schauspielerischen Einzelleistungen, gleichwohl teilweise so over the top, dass sie eher wie Revuenummern wirken, sind nicht das Hauptproblem des „Jedermann“ 2023. Mit seinen altbackenen Knittelversen und diesmal extra katholischer Moral wirkt er wie ein Erbstück, das man aus reiner Gewohnheit behält und immer wieder notdürftig abstaubt. Und auch handwerklich hat er Schwächen. Mit der flirrenden Musik Wolfgang Mitterers, live eingespielt von Musikern des Ensemble 021, können die oft hilflos wirkenden choreografischen und Gruppen-Szenen nicht mithalten. Und der chorische Beginn kommt akustisch kaum über die Rampe. So etwas wäre Christian Stückl nicht passiert. Und das große Novum, dass mit Valerie Pachner die erste Buhlschaft zugleich auch den Tod spielt, kann einem bei der Unterschiedlichkeit der Kostümierung (rote Samthose plus Top versus schwarzer Ganzkörperverhüllung mit Strahlenkranz) leicht entgehen. Vom katholischen Erlösungsgedanken her aber ist es stimmig: Pachner ist ihrem Buhlen eine freundliche, leichtherzige Lebensabschnittsgefährtin – mit einem Auge immer auf den Gästen. Als Tod aber schließt sie ihn innig in ihre Arme. Dass sie sich rasch und klaglos aus dem Staub macht, wenn er stirbt – ist es inhaltlich von Belang oder nur, weil sie sich umziehen muss? Am Ende senkt sich ein großes Tuch über die verbliebene Personnage und einen Abend mit mehr Schnörkeln als Substanz. Schwamm äh, Tuch drüber!
Erschienen am 25.8.2023