Magazin
kirschs kontexte: Von der Kraft der Subtraktion
Nomadentum, zwanzig Jahre nach Deleuze
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Alexander Kluge: Tschukowskis Telefon – Umwege zum Realismus (12/2015)
Assoziationen: Akteure
Vor ziemlich genau zwanzig Jahren starb der französische Philosoph Gilles Deleuze, und wenn sein vielfältiges Denken auch stärker Kino, Malerei und Literatur galt als dem Theater, so hat er diesem doch einen Text gewidmet, an den hier kurz erinnert sei. „Ein Manifest weniger“ heißt die kurze Schrift, die ein Porträt des italienischen Regisseurs und Schauspielers Carmelo Bene gibt und speziell dessen Shakespeare-Arbeiten als chirurgische Versuchsreihe zeichnet: Bene entfernte die organisierenden Zentren der Stücke, um zu untersuchen, was dann mit ihren Dramaturgien geschieht. Wenn man etwa „Romeo amputiert“, so Deleuze, „wird man Zeuge einer erstaunlichen Entwicklung, der Entwicklung Mercuzios, der in Shakespeares Stück nur als Möglichkeit angelegt war“. Es handelt sich also um eine Subtraktion, die zugleich „eine neue Potentialität des Theaters freisetzt, eine nicht-repräsentative Kraft, die immer im Ungleichgewicht sein wird“ – und die im Übrigen „mehr Liebe zu Shakespeare mitbringt“ als alle Gegner des seinerzeit als Zerstörer angeblich „realistischen“ Schauspielertheaters beschimpften Avantgardisten Bene.
Deleuze spricht Benes Verfahren ästhetische Bedeutung zu, aber auch institutionelle und politische – schließlich geht es um die Subtraktion der zentrierenden Elemente eines Gefüges. An dieser Einschätzung aber ist nichts zurückzunehmen. Im Gegenteil: Gerade heute, da sich Stimmen mehren, die die althergebrachten Hierarchien (und Ästhetiken) der...