Maßstäbe
von Herbert Jhering
Erschienen in: Theater der Zeit: Nachwuchssorgen (02/1947)

Als Max Reinhardt am 15. Dezember 1909 im Deutschen Theater Shakespeares ‚Bezähmte Widerspenstige‘ inszenierte, eine seiner kühnsten, phantasiereichsten und modernsten Bühnenübersetzungen, ging die Premiere mit Müh’ und Noth am Theaterskandal vorbei. Pfiffe der Traditionsbefangenen mischten sich in den enthusiastischen Beifall der Jugend. Kritische Grenzwächter der Ueberlieferung, wie der Berliner Korrespondent der Wiener Neuen Freien Presse, verließen in der Pause das Haus, und der junge Siegfried Jacobsohn begann in der ‚Schaubühne‘ seine Besprechung etwa mit diesen Worten: ‚Als Paul Goldmann mit puterrotem, sagen wir immerhin, Kopf die Vorstellung verließ, wußte ich, daß sie köstlich war.‘ Die Aufführung konnte zwar in derselben Spielzeit achtundvierzigmal wiederholt werden und in der nächsten noch neunmal, dann aber verschwand sie aus dem Spielplan im Gegensatz zu den Erfolgen von ‚Sommernachtstraum‘, ‚Faust‘, ‚Hamlet‘ und ‚Kaufmann von Venedig‘, die das Repertoire Reinhardts bis weit in den ersten Weltkrieg hinein und sogar darüber hinaus begleiteten.
So wurde eine ausgelassene, konsequente Komödieninszenierung in den Kampf der Meinungen gestellt. Sie mußte sich durchsetzen gegen die Gralshüter der Tradition, die sie mit den nicht mehr passenden Maßstäben des repräsentativen Kostümlustspiels messen wollten, unterstützt von den jüngeren Kritikern, die erkannten, daß hier neue Maßstäbe nötig wären, die nur aus dem Werk selbst gewonnen...