Auftritt
Hessisches Staatstheater Wiesbaden: Kurdisch gibt es nicht!
„Die Besetzung der Dunkelheit“ nach Bachtyar Ali – Inszenierung Ihsan Othmann, Bühne Olaf Grambow, Kostüme Jessica Rockstroh
von Björn Hayer
Assoziationen: Theaterkritiken Hessen Bachtyar Ali Ihsan Othmann Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Kafka am Bosporus. Nur ein wenig anders. Als Ismet Oktay (Ferhat Keskin), seines Zeichens ein Nationalist der härtesten Sorte, eines morgens aufwacht und unversehens seine Sprache verloren hat, scheint auch seine bislang gefestigte türkische Identität dahin zu sein. „Haben sich Tote seines Körpers bemächtigt oder ist gar dunkle Magie im Spiel?“ fragen sich die Angehörigen, die den sich nur noch in vermeintlichem Kauderwelsch äußernden Mann direkt zum Arzt bringen. Die Diagnose: Er spricht nun Kurdisch, eine Sprache, die es nach Angaben der Staatslenker gar nicht gäbe. Daher ist das Vorgehen klar. Der einstige Fanatiker wird nun selbst Opfer seines Hasses, indem er mit anderen „Erkrankten“ in eine sogenannte Psychiatrie verfrachtet wird. Doch damit nicht genug. Von den ursprünglich mehrere hundert Seiten umfassenden Roman aus der Feder des kurdischen Autors Bachtyar Ali sind noch weitere Handlungsstränge in die Uraufführung „Die Besetzung der Dunkelheit“ am Hessischen Staatstheater eingezogen: Jenseits von Propagandaparolen rechtsnationaler Politiker treffen wir noch auf einen gegen das System aufbegehrenden Arzt oder lernen einen homosexuellen Übersetzer kennen, der für den Geheimdienst gegen seine inneren Überzeugungen die unterdrückte, ethnische Minderheit aushorchen soll.
Alles sehr komplex? Alles sehr voll? Diese Eindrücke sind zutreffend und belegen auch ein wenig das Scheitern der Dramaturgie an dem monumentalen Prosawerk. Zu ausufernd muten insbesondere die sich mehrfach wiederholenden Konfrontationsszenen zwischen den kolonialen Herrschern und den unterdrückten Kurden an. Diese etwas ermüdenden Aufklärungsschleifen lockert glücklicherweise der Mut zur Karikatur auf. Wer hätte schon gedacht, dass dieses von archaischem Patriarchat gesteuerte System von senilen Männern mit weißen Haaren oder auf den ersten Blick kernig anmutenden, aber nur Unsinn verzapfenden Generälen mit Kastratenstimme gelenkt wird?
Mit eben solcher Komik sowie mit ruhiger Hand führt uns Regisseur Ihsan Othmann durch seine Uraufführung. Markante Akzente, also Szenen, die in uns ein Echo hervorrufen oder gar ausgefallene ästhetische Manöver darf man an diesem Abend gewiss nicht erwarten. Ein Strukturelement, das nicht unerwähnt bleiben sollte, ragt immerhin besonders hervor, nämlich das intelligent gestaltete Bühnenbild von Olaf Grambow. Auf einem Rondell dreht sich ein halbseitig geöffneter, spiralförmiger Aufgang, der zugleich mehrere Assoziationen zulässt. Als erstes sieht man in ihm ein Sinnbild für die nicht endende Gewalt, mithin die ewig selbstzirkulären Schleifen der immer selben rassistischen Stereotypien. Als zweites kommt einem auch Alfred Hitchcocks „Vertigo“ in den Sinn, ein bekannter Thriller über ein buchstäblich schwindelerregendes Doppelgängertum. Darin trägt die Schauspielerin Kim Novak eine hochgesteckte ‚Schneckenfrisur‘, die letztlich das Irregehen und den Sog des Chaos verbildlicht. In die „Die Besetzung der Dunkelheit“ macht sich dieses einerseits konkret im individuelle Schicksal Ismets bemerkbar, andererseits und in der Mehrheitsbevölkerung, die um jeden Preis die Ideologie einer völkischen Uniformität umzusetzen sucht.
Dass diese Bühnenumsetzung – trotz aller kritischer Bedenken die künstlerische Innovation betreffend – einen politischen Nerv und viele im Herzen trifft, veranschaulichen die beachtlichen Standing Ovations beim Applaus. Viele Besucherinnen und Besucher mit sichtbarer internationaler Geschichte zeigen sich euphorisch oder ergriffen. Vielleicht wie ihnen oder ihren Verwandten zumindest auf dem Parkett der Hessischen Landeshauptstadt zu etwas Gerechtigkeit verholfen wird, obgleich sie vor allem symbolischer Natur ist. Hoffnungsvoll klingt der Abend dennoch nicht aus. In einem imposanten Schlusstableau wird der Übersetzer von einer Gruppe Kurden hingerichtet. Es erklingt daraufhin zu poetischem Schneefall ein live auf der Bühne gesungenes Lamento in kurdischer Sprache. Kein Vers vergeht ohne das vernehmbare Weh über den Kreislauf der Brutalität. Auf jeden Tod folgt eben sogleich die Vergeltung und umgekehrt. Das Theater vermag dieses Schema zwar nicht zu durchbrechen. Was es aber schafft, ist Aufmerksamkeit: für all die Ungehörten und Stimmlosen.
Erschienen am 27.2.2023