Theater der Zeit

Morocco

Das junge Theater in Marokko

von Ahmed Massaia

Erschienen in: Recherchen 104: Theater im arabischen Sprachraum – Theatre in the Arab World (12/2013)

Assoziationen: Theatergeschichte Afrika

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Das marokkanische Theater, obgleich noch jung, hat seit seiner Begründung Mitte der 50er Jahre unterschiedliche Phasen durchlaufen. Neben zahlreichen Amateurtheatergruppen haben professionelle Kompanien die marokkanische Theaterszene viele Jahre lang belebt, bevor dem Theater in den 1980er Jahren die Luft ausging – und dies obwohl freie Theatergruppen auftauchten, deren junge Mitglieder teilweise im Ausland ausgebildet worden waren. Angesichts dieser Umstände sah sich die öffentliche Hand schließlich zum Handeln genötigt. Mit der Gründung des Institut Supérieur d’Art Dramatique et d’Animation Culturelle (ISADAC) sicherte sie dem Theater die Basis einer akademischen Ausbildung auf hohem Niveau und würdigte damit seine tatsächliche Bedeutung.

Fortan machten die jungen Absolventen des ISADAC es sich zur Aufgabe, neue Ästhetiken und Kommunikationsformen zu entwickeln. Sie wollten Theater als Abenteuer leben, zunächst existentiell, dann auch künstlerisch und ästhetisch. Der Abschluss der ersten Absolventen fiel zusammen mit beachtlichen demokratischen Fortschritten im Zuge der Durchsetzung der Menschenrechte (wie etwa der Meinungsfreiheit), der Reform der Frauenrechte, der Schaffung des Institut Royal de la Culture Amazighe (dem König­liches Institut zur Beachtung der Minderheitenrechte der Berber, IRCAM), also mit Maßnahmen, die 1998 zu einem poli­tischen Machtwechsel und einer neuen Linksregierung führen sollten. Die jungen Theaterleute profitierten von diesem demokratischen Fortschritt, denn sie kamen in den Genuss zahlreicher Fördermaßnahmen zur Schaffung und Verbreitung des Theaters. Neben Beihilfen zur Gründung von Theatern und zur Finanzierung von Aufführungen handelte es sich dabei auch um Hilfsgelder für die Künstler selbst und ihre soziale Absicherung. Die klare und dauerhafte Festlegung einer Theatersaison und ihres Abschlusses durch das Festival National du Théâtre Professionel in Meknès sollten die Maßnahmen zur Stärkung des Theaters vollenden. Die marokkanische Szene wurde von nun an durch zahlreiche Truppen bereichert, die von Absolventen des ISADAC gebildet wurden, und von Gruppen, die sich entweder auf das Amazigh-Theater bezogen oder die aus ehemaligen Amateurtheatergruppen hervorgingen.

So entstand seit Mitte der 1990er Jahre in Marokko ein wunderbares, ästhetisch und ideologisch vielfältiges junges Theater, dessen Urheber in der Mehrzahl Preisträger des ISADAC waren. Einige Theatergruppen entschieden sich für ein Theater zur Sensibilisierung, auch wenn sie weiterhin Probier- und experimentelle Stücke aufführten, wie das Théâtre des Amis unter der Leitung von Saïd Amil und Latefa Ahrrare, das Théâtre Aquarium von Naima Zitane oder in geringerem Maße die Gruppe Appinum aus Chefchaouen. Andere Gruppen machten das kulturelle Erbe Marokkos oder die Volkskultur zum Thema ihrer Arbeit und produzierten Stücke, die die marokkanische Gesellschaft in ihren verschiedenen sozio-ökonomischen Ausprägungen auf die Bühne brachten. Dies gilt für das Théâtre Appinum, das Tensift Théâtre, für Ibdae Drama und für Sahat Annas aus Marrakesch, aber auch für Fadae Alliouae Lil Ibdae aus Casablanca. Wieder andere hatten keine Angst, den alten Ballast abzuschütteln, zu provozieren und mit Tabus zu brechen, die trotz aller Aufrufe zur Modernität in der konservativen Gesellschaft fest verankert waren, auch wenn sie dabei riskierten, einen großen Teil des Publikums und gewisse Medien vor den Kopf zu stoßen. Dazu gehören das Théâtre Chamates unter der Regie von Bousselham Daïf aus Meknès, ferner das Théâtre des Amis, das Théâtre Aquarium und auch die Gruppe Dabateatr unter Jaouad Essounani, einem der eigenständigsten Regisseure des jungen marokkanischen Theaters.

Diese Kompanien kämpften nach ihrem eigenen Verständnis für ein Bür­ger-Theater, das provoziert und eine mutige Sprache spricht, die mit den fest in der marokkanischen Gesellschaft verwurzelten Tabus bricht. Gleichzeitig mit diesen vielfältigen, im Wesentlichen aus jungen Leuten bestehenden Theatergruppen entstand ein anderes, bis zu diesem Zeitpunkt unbekanntes Phänomen, das es den bis dahin in arabischer Sprache arbeitenden Gruppen erlaubte, sich zum Amazigh-Theater zu bekennen. Im Jahr 1997 gründeten einige von Berbern abstammende Theaterleute unter der Leitung von Mohamed Dasser die Gruppe Izourane du Théâtre Amazigh, die ein Theatergenre begründete, zu dessen erklärten Zielen es von Anfang an gehörte, das Theaterspiel in der Tamazight-Sprache zu fördern. Diesem Beispiel folgten viele andere Gruppen in ganz Marokko.

Vor dem Hintergrund der ästhetischen Vielfalt des jungen Theaters wagten einige Gruppen, Themen zu berühren, die bis dahin in der marokkanischen Gesellschaft tabuisiert waren, und wählten dabei ästhetische Mittel, mit denen sie sehr schnell Aufmerksamkeit erregten. Diesem zeitgenössischen Experimentaltheater ging es darum, mit einer neuen Ästhetik und einer unverblümten Sprache die Ordnung der Dinge durcheinanderzubringen und mit Tabus und überlieferten Vorstellungen zu brechen. Initiiert wurde es von Bousselham Daïf, der 1997 zusammen mit anderen Preisträgern des ISADAC das Théâtre Chamates (Théâtre Grains de Beauté) in Meknès gründete. Anschließend leitete er die lokale Truppe Tafilalet in Meknès mit Mitgliedern derselben Gruppe. Seine ersten Inszenierungen hatten sofort beachtlichen Erfolg, und beim Festival National du Théâtre Professionel in Meknès wurde er mehrmals ausgezeichnet.

Mit beliebten Themen und einer sehr gewagten Ästhetik setzte sich Bousselham Daïf in der Theaterszene Marokkos schnell durch. Obwohl die minimalistische Ästhetik in den Stücken des Dramatikers und Regisseurs noch vom Experimentiertheater geprägt war, bei dem das Kabarettistische im Vordergrund stand und eine bald poetisch-berührende, bald unverblümt-schockierende Sprache gesprochen wurde, gelang es ihm, sich als vielversprechender junger Theatermacher einen Namen zu machen, insbesondere mit den Stücken Rass Al Hanout und Naâl Errih, die er in der Saison 1998/99 und 1999/2000 für das Théâtre Chamates inszenierte. Ähnliche Erfolge zeitigten Jasmin und Nacht und Tag – zwei Stücke, die er in der Saison 2001/02 und 2004/05 für seine lokale Theatergruppe inszenierte. Diese beiden Stücke wurden von zwei großartigen jungen Schauspielerinnen getragen, Latifa Ahrrare und Fatima Atef, seiner Lieblings-Schauspielerin, sowie einem jungen Preisträger des ISADAC, Hicham Ismaïli.

Das andere Enfant terrible des jungen marokkanischen Theaters ist Jaouad Essounani, ein Preisträger des ISADAC. Dieser Regisseur und Leiter der Gruppe Dabateatr entschied sich von Beginn seiner Karriere an gegen ausgetretene Pfade und für das Abenteuer. Nach dem Abschluss am ISADAC stellte sich Jaouad Essounnani sofort der Herausforderung, Theater zu machen, koste es, was es wolle. Weil er davon überzeugt ist, dass in der Kunst die sozialen und religiösen Grenzen die schöpferische Arbeit oft bremsen, versprach er ein anderes Theater, eines das auf dem Experiment und der Interkulturalität beruht. Seiner Meinung nach ist dies die einzige Möglichkeit, die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern. 2004, in demselben Jahr, in dem er seine Gruppe gründete, stellte er – in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut in Rabat – sein erstes Stück vor, Crashland, eine Nacht, in dem Schauspieler verschiedener Nationalitäten auftraten: Deutsche, eine Algerierin, Franzosen und Marokkaner.

Das Festival Théâtre et Cultures findet regelmäßig auch in den Alten Schlachthöfen von Casablanca, einem alternativen Kulturort, statt. / The festival Théâtre et Cultures takes place regularly in the old slaughterhouse of Casablanca, an alternative place for the arts. © Festival Théâtre et Cultures / Fondations des Arts vivants Casablanca

Jaouad Essounani machte mehrere Praktika in Europa, u. a. am Royal Court Theatre in London, wo er umfangreiche praktische Erfahrungen und wichtige Kontakte sammelte. Danach kehrte er nach Marokko zurück, noch entschlossener als zuvor, das Theater zu verändern und an der künstlerischen Ausbildung eines Publikums mitzuwirken, das mit solchen Ausdrucksmitteln noch nicht vertraut ist. Er wechselte den Stil und schrieb ein zweites Stück, Die Kerze nach Das Mädchen und der Tod von Ariel Dorfman. Die Inszenierung wurde sowohl vom Publikum als auch von der Kritik gut aufgenommen. Essounani wurde zum achten Festival National du Théâtre Professionel in Meknès eingeladen, wo er für mehrere Preise nominiert wurde.

Einige Jahre später kam es zur Zusammenarbeit mit dem Dramatiker Driss Ksikès. Er und Jaouad Essounani brachten Hommage! und dann Il / Houwa mit Erfolg zur Aufführung. Danach kamen Ksikès und Essounani mit dem neuen Stück 180 Grad heraus, in dem es wiederum um existentielle Fragen geht. Die Figuren auf der Bühne gehören einer Gesellschaft an, die sich im Werden befindet und sich immer mehr in die absurdesten Widersprüche verwickelt.

180 Grad erzählt keine Geschichte, sondern stellt uns mehrere Geschichten vor, die hier und da aus dem alltäglichen Leben entlehnt wurden. In einer exzentrischen Inszenierung, in der das Experiment über den konventionellen Theaterstil dominiert, hält der Regisseur dem Zuschauer einen mehrfach gebrochenen Spiegel vor. Beim Blick hinein stellt der Zuschauer sich existentielle Fragen und wird dabei ohne es zu merken zum Voyeur. Die Personen in 180 Grad haben keine Namen. Warum sollten sie auch welche haben in dieser aufs Äußerste entmenschlichten Welt, die uns dieses Stück vor Augen führt? Die Gestalten sind anonym, weil sie genauso sind wie wir. Sie sind uns oft ähnlich, aber sie sind auch das Gegenteil dessen, was wir gerne wären. Das ist so, weil es das erklärte Ziel von Dramatiker und Regisseur ist, uns mit der Dialektik von Sein und Schein zu konfrontieren. Symbolisiert wird dies beispielsweise durch die unaufhörliche Drehung einer mit einer Burka bekleideten Frau.

Aus dieser fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Autor und Regisseur ging ein weiteres ambitioniertes und originelles Theaterprojekt hervor. Sie werden dabei vom Institut Français in Rabat unterstützt, das ihnen das kleine Théâtre Gérard Philippe zur Verfügung stellt; eine einmalige Sache in Marokko. Dabateatr ist seitdem ein „ständiges Labor, in dem sich Schriftsteller, Theaterregisseure, Musiker, Tänzer, Schauspieler und andere Kreative verschiedener Gebiete treffen und zusammen multidisziplinäres Bürger-Theater machen“, wie man in der Selbstdarstellung des Theaters lesen kann. Diese multikulturelle Truppe versucht auch dadurch professioneller zu arbeiten, dass sie viel Wert auf Kommunikation und Austausch legt. In jeder ersten Woche des Monats ist das kleine Théâtre Gérard Philippe Treffpunkt für Kunst- und andere Begegnungen. Während dessen zeigt die Truppe Theaterstücke, Tanztheater und Konzerte und organisiert auch Fortbildungen. Krönender Abschluss ist die Präsentation der Theater-Nachrichten, bei der aktuelle gesellschaftliche und politische Ereignisse in kleinen Bühnenstücken inszeniert werden.

Das von Naima Zitane gegründete Théâtre Aquarium, ein weiterer „Störenfried“ der marokkanischen Theaterszene, siedelte sich von Anfang an im Kontext des „Theater der Sensibilisierung“ an, um Stellung zu beziehen für die Rechte der Frauen. Zitane berührt aber auch Themen, die von einem Teil des Publikums als blasphemisch angesehen werden. Die vom Théâtre Aquarium gezeigten Stücke werden von Mal zu Mal deutlicher in ihren provokatorischen Absichten. Mit einer mehr oder minder unverblümten und unverstellten Sprache ergreifen Frauengeschichten, Mohnblumen oder Rot + Blau = Violett ausdrücklich Partei für die Sache der Frau und ihre Persönlichkeitsrechte. Aber mit dem Stück Dialy – Für mich, einer szenischen Adaptation der Vagina-Monologe der amerikanischen Autorin Eve Ensler, hat das Théâtre Aquarium die Grenzen dessen überschritten, was eine Gesellschaft zu akzeptieren bereit ist, die sich noch weigert, laut über das zu reden, was sie im Stillen denkt. Trotz einiger Unterstützung, wurde das Aquarium in den sozialen Netzwerken von einigen Kritikern verleumdet, weil das Stück das Unsagbare aussprach. Ähnlich erging es der Produktion Capharnaum des Théâtre des Amis. Das Stück wurde kritisiert, weil Latefa Ahrrare es gewagt hatte, auf der Bühne im Badeanzug zu erscheinen. Das zeigt, dass die Redefreiheit in einer Gesellschaft, die für eine Stärkung der demokratischen Ideale kämpft, immer noch ein frommer Wunsch ist. Erst wenn es dieser Gesellschaft gelingt, sich von ihren Tabus und Klischees zu befreien, wird sich eine kreative Arbeit hier wirklich entfalten und gedeihen können.

Übersetzt aus dem Französischen: Herwig Lewy und Dorothea Wagner

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