Ambivalente Haltungen zur Welt
Kunst als Lebensmöglichkeit
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Das Sich-Verkapseln im Ästhetischen, in imaginierten schönen und/oder unheimlichen Kunstwelten, in der rational nicht zu fassende, unbegreifliche Kräfte walten, erscheint als höchst widerspruchsreicher Versuch, gegenüber/in den komplexen, schwer durchschaubaren Mechanismen der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung kreativ arbeiten, ja überhaupt leben zu können. Nietzsches Weltdeutung hatte bereits davon gesprochen. Ihre starke Wirksamkeit unter europäischen Intellektuellen bis zum Ersten Weltkrieg dürfte nicht zuletzt in dem (bitteren) Ausweg in das Ästhetische gelegen haben, den er im Zusammenhang mit seiner Kritik des Apollonischen (des beherrschenden Logozentrismus) und seines Flirts mit dem Dionysischen, dem (nicht-rationalen) Rausch als die einzige Möglichkeit sah, die Welt zu ertragen. Das Dionysisch-Sinnliche, vor allem entfaltet und vermittelt in der Musik, werde uns „am nächsten noch durch die Analogie des Rausches“ gebracht, entweder „durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachsen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet.“ Dieses Dionysische schaffe und entfalte Gemeinschaft. Es könne so gegen Entfremdung wirken. Unter dem „Zauber des Dionysischen“ schließe sich „nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder...