Theater der Zeit

Auftritt

Théâtre du Soleil: Im Mahlstrom der Geschichte

„Ici sont les Dragons – 1917 - La victoire était entre nos mains“ von Théâtre du Soleil in Abstimmung mit Hélène Cixous– Regie Ariane Mnouchkine

von Eberhard Spreng

Assoziationen: Theaterkritiken Europa Ariane Mnouchkine

Der erste Teil des neuen Großprojekts:  „Ici sont les Dragons – 1917 - La victoire était entre nos mains“ von Théâtre du Soleil in Abstimmung mit Hélène Cixous, Regie Ariane Mnouchkine. Foto Lucile Cocito, Archives Théâtre du Soleil
Der erste Teil des neuen Großprojekts: „Ici sont les Dragons – 1917 - La victoire était entre nos mains“ von Théâtre du Soleil in Abstimmung mit Hélène Cixous, Regie Ariane MnouchkineFoto: Lucile Cocito, Archives Théâtre du Soleil

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„Hic sunt dracones“, so stand es auf alten Landkarten für Regionen, die gemeinhin als unerschlossen, unbewohnt und wild galten, Regionen, in denen das Recht nicht greift und böse Drachen herrschen. Theaterprinzipalin Ariane Mnouchkine fand beim Blick auf die Topografie des 21. Jahrhunderts Gefallen an dieser Metapher und stellt ihr gewaltiges Geschichtsfresko unter den Titel „Ici sont les Dragons“ („Hier sind Drachen“) – als ersten Teil eines großen neuen Projekts. Damit reagiert das Theater auf die neue Barbarei, die mit Russlands Angriff auf die Ukraine begann. Eine „Theaterbarrikade gegen Despoten und ideologische Verbohrtheiten“ soll errichtet werden, wie immer betrieben von persönlicher Betroffenheit und daraus entstehender politischer Dringlichkeit.

Diese zeigt sich ganz pragmatisch in der Einführungsszene. Da leuchtet auf einem riesigen weißen Tuch das Video von Russlands Präsident Putin auf, in dem er im Februar 2022 von der sogenannten ‚militärischen Spezialoperation‘ spricht. Eine aufgebrachte Frau im Blaumann rennt ob dieses ungebetenen Eindringlings quer über die noch leere Bühne und brüllt „Halt’s Maul, Mörder!“, prügelt mit ihren Fäusten gegen das Tuch, das nun in Wallung kommt und Putins Gesicht verzerrt wie bei einem gestörten Fernsehsignal.

Putins Narrativ stören, darum geht es hier, die Geschichte neu erzählen für ein Europa im Schock. Ariane Mnouchkine will vor allem für die jüngere Generation die Kriege des 21. Jahrhunderts erklären, indem sie die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu erzählt, beginnend mit dem Jahr 1917. Ihre Stellvertreterin auf der Bühne ist die tapfere Cornélia vom Anfang, für die an der Rampe ein Verschlag gebaut worden ist, mit lauter Schubladen für Dokumente der Geschichte und für Bücher, aus denen sie gelegentlich kurze Passagen vorliest. Kaum ist der dokumentarische Ansatz dieses Theater erklärt, treten die Herrscher-Figuren der Geschichte auf. Winston Churchill meditiert an der Westfront des Ersten Weltkrieges, dort auch lauert später Adolf Hitler, der als einfacher Soldat in seinem Graben einen Brief schreibt. Der letzte Zar Nikolaus der II tritt in Petrograd auf, wo später Lenin, Stalin und Trotzki die Geschicke der russischen Revolution lenken.

Immer wieder huschen drei Baba Jagas, slawische Fabelgestalten über die Bühne. Das erinnert als Shakespeares Hexen im „Macbeth“ oder an die drei Parzen. Sie sind Unheilskünderinnen und in Mnouchkines feministischer Theaterwelt die Verkörperung eines weiblichen Prinzips. Zwar schreiben hier vor allem die Männer Geschichte, aber das letzte Wort werden sie wohl nicht haben.

Finstere Schlachtengemälde lösen sich ab mit dunklen Stadtansichten, die Bildwelt ist beeindruckend und beglaubigt den Anspruch des großen Geschichtsfreskos – ein Hauch Sergej Eisenstein weht von ferne. Ein düsterer Soundscape begleitet die Chronik über das für die weitere europäische Geschichte entscheidende Schicksalsjahr 1917. Fahrbare Dekorelemente huschen herbei und verschwinden wieder, Schneeboden wird ausgelegt und wieder eingewickelt, rasant wird die Bühne für jede der 21 Szenen umgestaltet. Wie immer im Sonnentheater sind Akteurinnen und Akteure auch für das Dekor zuständig.

Wir erleben das Ende der Zarenherrschaft und die entscheidenden Monate der Russischen Revolution. Gelegentlich treten die Akteurinnen und Akteure aus ihrer Rolle, wenden sich direkt an die Regisseurin an der Vorderbühne. „Wir müssen unbedingt Karl Kautsky lesen“, sagt da ein Student ganz aufgeregt, aber Cornélia will ihr ideologie-geschichtliches Erklärstück nicht mit Theoriegrundlagen über die deutsche und internationale Sozialdemokratie ausufern lassen. Solchen Einhegungen zum Trotz: Vieles bleibt lose Andeutung, Anekdote. Eine von ihnen: Deutsche Politiker entscheiden, den Exilrussen Lenin in einem versiegelten Waggon quer durch Deutschland fahren zu lassen, weil sie hofften, er werde in Russland die Geschehnisse der Revolution in ihrem strategischen Sinne beeinflussen und einen Separatfrieden mit Russland befördern.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler des Sonnenensembles treten mit kunstvoll gefertigten Masken auf, ihr Spiel ist plakativ. Sie leihen ihren Figuren also nur Körper und Gestik. Denn die französischen, englischen, russischen, ukrainischen und deutschen Stimmen kommen aus Lautsprechern. Dies ist kein Theater der Verkörperung, sondern der Masken, Illustrationen und allegorischen Übersteigerungen. Das Spiel wird fast erstickt unter der Vielzahl der Ereignisse, der Mensch fast unkenntlich im Mahlstrom der Geschichte. Das Ende des ersten Teils ist Ernüchterung: Die Zeit der Debatten ist zu Ende, die Bolschewiken übernehmen die Macht. Die Menschewiki verlieren im politischen Kräftespiel, die Hoffnung auf ein demokratisches Russland ist vorbei.

„Ein letztes Röcheln“ der französischen Revolution, so empfindet Ariane Mnouchkine diese verdüsterte Revolutionsgeschichte. Vor fast 55 Jahren hatte sie ihr frühes Kultstück „1789“ inszeniert, wo das Publikum die französische Revolution als immersives Jahrmarktsspektakel erlebte, getragen von unbeugbarem Optimismus. Das hier begonnene Opus Magnum der Theaterprinzipalin wird nun aber von einer düsteren Vorahnung überschattet; Dämonen haben das Zepter der Geschichte übernommen. Der erste Teil heißt „1917 – La victoire était entre nos mains“ („1917, wir hielten den Sieg in den Händen“) nach dem „Tagebuch der russischen Revolution“ des menschewistischen Politikers Nikolai Suchanow. Im kommenden Jahr soll „War Rooms“ die Zeit von 1924 bis 1945 erzählen. Noch ein Jahr später soll „Il est encore fécond“ („Der Schoß ist fruchtbar noch“) die Zeit von 1945 bis 2022 beleuchten. Derweil rennt die Gegenwart mit dem Theater beim Schreiben von Geschichte um die Wette.

Erschienen am 17.12.2024

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