Bildbeschreibungen, Tischgesellschaften und Komparative
Zur Oper Landschaft mit entfernten Verwandten
von Heiner Goebbels
Erschienen in: Recherchen 96: Ästhetik der Abwesenheit – Texte zum Theater (08/2012)
Nicolas Poussin: „Im Vordergrund des Gemäldes sind die Figuren alle tragisch. Aber im Hintergrund ist alles friedlich, sanft und freundlich.“
Leonardo da Vinci: „Die linke Seite Ihres Gemäldes macht mich neugierig, die rechte zu sehen.“1
Dieser fiktive „Dialog der Toten“ ist Teil einer ersten Bildbeschreibung in dem Musiktheaterstück Landschaft mit entfernten Verwandten. Auch wenn diese Bilderoper auf den ersten Blick unzusammenhängend erscheinen mag, sich sogar gerade um diesen Eindruck bemüht, gibt es mehrere durchgehende Motive: unter anderem die Bildbeschreibungen. Hier diskutieren gerade die beiden Maler die Bildkomposition in Poussins für den Zuschauer/Zuhörer unsichtbaren Gemälde Landschaft mit dem von der Schlange getöteten Mann – eine außergewöhnliche Balance von Schrecken und Schönheit. Das Ringen um diese Balance provoziert auch in dieser Oper eine Perspektivenvielfalt, die den Betrachter immer wieder zwischen links und rechts, vom Vordergund zum Hintergrund, zwischen Ton und Text, gespielter und erzählter Zeit, von dieser zur nächsten Szene usw. schweifen lässt.
Schon den Landschaften in Poussins Gemälden fehlt oft ein eindeutiges Zentrum, und der Blick auf sie braucht den Respekt für alle Details. Dass das möglich ist, verdanken wir der – neben der angesprochenen Balance – zweiten Qualität Poussins: nämlich der, auch in der größten Entfernung nicht ungenau...