Auftritt
Bautzen: See(le)nland
Deutsch-Sorbisches Volkstheater: „Mein vermessenes Land“ von Jurij Koch. Regie Lutz Hillmann, Ausstattung Miroslaw Nowotny
von Michael Bartsch
Assoziationen: Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen
Es war 1977 ebendiese Zeitschrift Theater der Zeit, die den kompletten Text des in Halle abgesetzten Stückes „Landvermesser“ druckte. Der Abdruck kam einem stummen Protest gleich. Nur zwei Aufführungen erlebte die Auseinandersetzung des sorbischen Autors Jurij Koch mit den Folgen des Braunkohleabbaus für sein ohnehin bedrohtes Volk. Die Energieversorgung der DDR hing maßgeblich an der Kohle, die vor allem in den Tagebauwüsten der Lausitz geschürft wurde. Schon damals herrschte das Diktat der Ökonomie; störende Rücksichten auf mehr als 130 abgebaggerte sorbische Dörfer galten überdies als reaktionär. Lothar Schneider, Nachfolger des 1977 abgesetzten Hallenser Intendanten Ulf Reiher, behauptete damals, „daß ein Stück, in dem die Revolution auffallend barbarische Züge und die Tradition auffallend sentimentale Züge trägt, nicht unserer Auffassung entspricht, die wir von der dialektischen Bewegung unseres gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens haben“.
Dreieinhalb Jahrzehnte später hat sich an der Ausgangsproblematik nichts geändert. Für die Erweiterung der Tagebaue Nochten II und Welzow Süd sollen erneut 1500 Menschen umgesiedelt, sollen drei weitere sorbische Dörfer aufgelöst werden. Bessere Abfindungen werden inzwischen gezahlt. Ausgekohlte Restlöcher werden zum „Lausitzer Seenland“ verbunden, das allerdings touristisch eine Entwicklungsregion bleibt. Vor allem ist hier „nichts mehr so, wie es einmal war“, sagt Dramaturgin Madlenka Šołcic, die für den sorbischen Zweig des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters Bautzen zuständig ist. Durch diese Verluste wird die Kultur der slawischen Sorben weiter in die Defensive gedrängt.
Das Theater hat deshalb Jirij Kochs brisantes Stück aufgegriffen, das auf seiner Erzählung „Landvermesser“ von 1975 beruht. Auf künstlerischer Ebene finde kaum eine Auseinandersetzung mit der Vertreibung der Sorben durch die Kohle statt, beklagt Benedikt Dyrlich. Der langjährige Vorsitzende des Sorbischen Künstlerbundes war einst Dramaturg in Bautzen. Auf einige Änderungen habe er sich mit Intendant Lutz Hillmann, der Regie führt, für die Neuinszenierung verständigt. Der Titel beispielsweise ist zum doppelbödigen „Mein vermessenes Land“ abgewandelt worden.
Zwei Welten prallen aufeinander, die gegensätzlicher kaum sein können und doch auf subtile Weise miteinander verwoben sind: In die sorbische Tradition bricht die industrielle Neuzeit ein und mit ihr die Erkenntnis, dass diese Tradition nicht statisch konserviert werden kann. Lutz Hillmann zeichnet die archaisch anmutenden Bilder Kochs respektvoll nach. Schauplatz ist ein von Miroslaw Nowotny zu einem angedeuteten Wald gestalteter Raum, der auch ein rundes Baumhaus sein könnte, dessen Gazewände zugleich als Videoprojektionsfläche dienen. Auf ihnen erscheint die mythologische Geister- und Sagenwelt, jene Metaebene, mit der das bodenständige Volk noch im Einklang lebt. Die Flussgeister zum Beispiel, oder der Rublak, die Verkörperung der Volksseele, der langmähnig-gespenstisch sogar persönlich auftritt. Im Zentrum der Bühne steht ein Tisch, an dem, zum Webstuhl aufgeklappt, der junge Weber Kotjatko sein bescheidenes Geld verdient.
Neben ihm bewohnen diesen symbolträchtigen Ort noch der Vater, der das Vertraute auch mit dem Gewehr verteidigen möchte, und die sichelkrumme Frau, die für Erfahrung und Volksweisheit steht. Polternd brechen drei lackgrüne Landvermessertypen herein. Sie fühlen sich auf skrupellos-unbekümmerte Weise als Repräsentanten des Fortschritts, aber auch der Macht, die in Gestalt der bevorstehenden Abbaggerung über die alte Welt siegen wird. „Wir bringen euch das Glück der neuen Zeit!“ Sie genießen ein bisschen die alte Exotik und schrammen dabei knapp an Überheblichkeit vorbei. Ausgenommen Marija, die verliebt sich in Kotjatko.
Aber auch die Alteingesessenen fühlen sich zumindest innerlich überlegen, ja stolz. „Wir sind fürstlich – wir haben alles, was sie gern hätten: Wald, Wiesen, Freiheit!“ Nicht mehr lange, denkt der Zuschauer, der dem sorbischen Text dank einer deutschen Simultanübersetzung gut folgen kann. Denn unerbittlich sausen immer mehr rot-weiße Messlatten wie Pfeile herab, zerschneiden und zerstören das Land. Fast wie eine dialektische Synthese mutet der veränderte Schluss an, als nämlich Kotjatko und Marija sorbisch heiraten, den Webstuhl aber in die unvermeidliche neue Zeit hinüberretten wollen.
Larmoyanz hat Lutz Hillmann vermieden, aber über der knapp zweistündigen Aufführung lastet eine düstere, beklemmende Atmosphäre. Das verhaltene, langsame Spiel der acht Akteure trägt dazu bei. Nur sechs Aufführungen hat „Mein vermessenes Land“ erlebt, damit ist das Potenzial von rund 1000 sorbischen Theaterbesuchern erschöpft. Diskutiert wird das Stück aber heftig, denn auch unter den betroffenen Sorben gibt es nicht nur heimatverbundene Idealisten. //