Der Paradigmenwechsel der 1990er Jahre
von Henning Fülle
Erschienen in: Wir haben es einfach gemacht! – Reisen in internationale Theaterwelten (07/2024)
Elisabeth Bohde, Gründerin, Co-Leiterin und tatsächlich auch Eigentümerin der Theaterwerkstatt Pilkentafel (der Immobilie und der Marke) in Flensburg, beschrieb die Prozesse der Transformation der Freien Szene in den 1990er Jahren mit den Worten: „Es kam uns vor, als sei der Kapitalismus ausgebrochen.“ Sie meinte damit die Veränderungen gegenüber den 1980er Jahren, in denen sie von Gastspielen, Touren, Kooperationen, Festivals etc. tatsächlich leben konnten. Diese Entwicklungsphase der Freien Szene beschreiben deren Protagonist*innen von heute aus mit dem Zungenschlag einer gewissen Romantik und mit mehr oder weniger Bedauern, was die Ablösung der informellen Ökonomie durch ausgearbeitete schriftliche Verträge ausmacht. Während in den Achtzigern meist ‚auf Teilung‘ (de facto des Risikos und des Erfolgs) gespielt wurde und anstelle von Verträgen das Wort und der Handschlag galten, begann mit dem künstlerischen Nachwuchs, der in Hildesheim, Gießen, Hamburg oder anderswo ausgebildet worden war, das Kalkül der tariflich gerechten Bezahlung der Akteur*innen auch in der Freien Szene Platz zu greifen. Einen Übergang bildeten merkwürdigerweise auch sozialpolitische Programme, die es in den 1990er Jahren noch ermöglichten, auf einer ABM-Stelle mit einem Hochschulabschluss entsprechend dem öffentlichen Tarif bezahlt zu werden. Die erworbene Qualifikation wurde zum Kriterium für Ansprüche und Forderungen der Entlohnung von Projektarbeit in der Freien Szene...