Auftritt
Staatsoper Berlin: Rätselvolle Nymphe
„Daphne“ von Richard Strauss – Musikalische Leitung Thomas Guggeis, Text Joseph Gregor, Inszenierung, Kostüme, Bühne, Licht Romeo Castellucci, Choreographie Evelin Facchini
Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Musiktheater Romeo Castellucci Staatsoper Berlin

Die Frage des Abends war: kann eine Inszenierung ein dramaturgisch schwaches Libretto retten?
„Theater und keine Literatur!“ verlangte Richard Strauss von seinem Librettisten Joseph Gregor, nachdem er dessen erste Fassung von Daphnes Verwandlung zu lesen bekam. Und schimpfte über das gestelzte, gespreizte Deutsch des Librettisten, störte sich an dessen papierenen Bildungsballast und „schlecht imitierten Homerjargon“ so wie den „Weltanschaungsbanalitäten“. Gregor war ohnehin nicht Strauss’ erste Wahl gewesen bei der Interpretation des Daphne-Mythos. Der NS-Terror verhinderte allerdings eine erneute Zusammenarbeit mit dem jüdischen Schriftsteller Stefan Zweig. Erst bei Gregors dritter Libretto-Fassung entschloss sich Strauss zur Vertonung des Stoffes als „Bukolische Tragödie in einem Aufzug“. Im Mittelpunkt des ca. 1 ¾ Stunden andauerndem Dramas steht die jungfräuliche Nymphe Daphne, die vor den Nachstellungen des liebestollen Sonnengottes Apollon und auch ihres Jugendfreundes Leukippos flieht. Sie bittet ihren Vater, dem Flussgott Peneios, um Hilfe, der sie in einem Lorbeerbaum verwandelt, und sie somit vor dem Zugriff schützt.
1938 wurde Daphne in Dresden uraufgeführt gelangte aber nicht ins Kernrepertoire. Zur jetzigen Neuproduktion an der Berliner Staatsoper sagt Regisseur Romeo Castellucci im Programmheft: „Es gibt für uns keinen Raum für Nostalgie nach einer unwiederbringlich fernen Welt… weder eine Welt der Hirten, noch des idyllischen Lebens, sondern nur eingefrorene Natur“. Und so vergräbt er die arkadische Landschaft unter einer Tonne Theater-Schnee, der über eineinhalb Stunden fast pausenlos rieselt. Castelluccis phänomenales Zauber-Licht lässt darin faszinierende und Bilder, Visionen und Zeichen erstehen. Symbolisch mögen diese mitunter aufgeladen sein und doch bleiben sie ein einziges irritierendes Rätsel, da sie sich jeder Konkretisierung und Eindeutigkeit entziehen. Ähnlich verhält es sich mit den Gegenständen auf der Bühne. Da steht etwa ein Kanister mit der Aufschrift ER auf einem Sockel. Theaterblut ist darin, das sich der todgeweihte weil bald von Apollo getötete Leukippos über den Leib kippen wird. Durch Zauberhand erscheint gleich ein weiterer Kanister mit der Aufschrift SIE. Das Blut der Daphne? Und was hat es mit dem Mantel auf sich, in dem DAPHNE sich einhüllt, mit dem Aufdruck VERA? Steht er für das Wahre? Die Wahrheit oder, ganz simpel, für den Vornamen der Daphne-Darstellerin Vera-Lotte Boecker? An einer psychologisch abgründigen Fallstudie über Missbrauch scheint Castellucci jedenfalls nicht interessiert, trotz aktueller Vorfälle in Schulen und kirchlichen Einrichtungen.
Als ein wahrer Glücksfall erwies sich Vera-Lotte Boecker in der Hauptpartie der Daphne. Die derzeitige „Sängerin des Jahres“ (Opernwelt), die 2023 in Wien ihr Lulu Debüt geben wird, gab der Rolle eine zarte und verletzliche Kontur dank ihres mädchenhaft hellem sehr gelenkigen dramatischen Soprans und ihres immensen Ausdrucksspektrums, das von kindlicher Naivität und Fröhlichkeit bis hin zu der Angst und der Verwirrung der Verzweifelten alle Register beherrscht.
Dennoch: ein handfester Konflikt stellte sich auf der Bühne nicht ein und man fühlte sich an Strauss‘ Kritik an Gerber erinnert, der ihm „ein völliges Nacheinander, keine Spur von irgendeiner Schürzung des Knotens“ vorwarf. So gesehen kann die Antwort des Abends nur lauten: Nein, die Inszenierung rettet das Libretto nicht, kann die dramaturgische Leerstelle nicht füllen. Wäre da nicht Strauss’ Musik und ihre Interpreten! Betörend allen voran Anna Kissjudiths als Mutter Gaea, nobel in sich ruhend René Pape als Vater Peneios. Stimmlich nicht ganz der jugendlichen Heldentenor-Partie und ihren hohen Tönen gewachsen war allerdings Pavel Černoch als Apoll. Und auch der Opernstudio-Stipendiat Magnus Dietrich als Leukippos überzeugte nicht vollends. Seinem schönen jungen Tenor mangelte es noch etwas an Schmelz, fehlt noch der letzte Schliff. Am Pult der ausgezeichnet musizierenden Staatskapelle stand Thomas Guggeis, Staatskapellmeister Unter den Linden und designierter Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt ab 2023/24. Unter Guggeis Dirigat fand die Handlung zusammen und die Musik zu ihrer harmonischen Mitte zurück. Delikat und filigran seine Lesart ohne die gewohnte Strauss-Opulenz, was ihm wohl einige enttäuschte Zuhörer mit einem kleinem Buh quittierten, nicht so merkwürdigerweise bei Castellucci, der kein einziges Buh erhielt. Das habe ich auch noch nie erlebt.
Erschienen am 27.2.2023