Protagonisten
Orte der Globalisierung
von Joachim Lux, Amelie Deuflhard, András Siebold, Natalie Fingerhut und Sandra Küpper
Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)
Assoziationen: Akteure Kampnagel Thalia Theater
Bei Theater der Welt 2017 in Hamburg steht der Hafen im Zentrum – die Kuratoren Joachim Lux und Sandra Küpper vom Thalia Theater und Amelie Deuflhard und András Siebold von Kampnagl im Gespräch mit Natalie Fingerhut
Fangen wir mit dem Konzeptionsgedanken an, „Think global, act local“. Wie ist es zu diesem Vierer-Kuratorium gekommen?
Amelie Deuflhard: Theater der Welt war immer schon ein Festival, das an ein Stadttheater angegliedert war. Bisher hat ein auswärtiger Alleinkurator*in das Programm gestaltet. Dieses Mal hat Joachim Lux als Präsident des Internationalen Theaterinstituts ITI das Festival nach Hamburg geholt und wollte das Programm aus der Stadt heraus gestalten. So entstand die Idee, dass Kampnagel und Thalia Theater mit jeweils zwei Kuratoren aus beiden Häusern das Festival gemeinsam erarbeiten. Während der Arbeit haben wir gemerkt, was für Vorteile das bedeutet: Diese Zusammenarbeit war nicht unkompliziert, aber für die Programmentwicklung wirklich sehr fruchtbar: Beide Seiten fühlten sich berufen, andere Künstler*innen und neue Ästhetiken zu finden, die noch nicht an unseren Spielorten zu erleben waren, heißt, wir haben viele in Hamburg nicht so bekannte Künstler*innen eingeladen, einige von Ihnen erarbeiten neue Produktionen für das Festival. Zudem haben wir als Theaterschaffende in unserer eigenen Stadt natürlich Verbindungen und konnten mit zahlreichen Kooperationspartnern Ideen und Hamburg-Programme entwickeln.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Stadttheater und Kampnagel als Zentrum für freie Szene? Wie können die Institutionen voneinander lernen, wie lebt sich das im Festival- und Proben-Alltag?
Joachim Lux: Es gibt ja immer dieses Gerücht, dass freie Szene und Stadttheater wie Feuer und Wasser sind, Erzfeinde, Geschwistermord und so weiter. Wenn man dem einen objektiven Kern zuschreiben will, dann ist es letztlich ein Kampf um Ressourcen, um Förderungen. Es geht nicht darum, wer die bessere Kunst macht, sondern beide brauchen mehr Geld. In Wirklichkeit interessieren wir uns – auch wenn die Geschmäcker manchmal verschieden sind – dafür, welche Künstler in ein Festivalprogramm passen, völlig unabhängig von der Verortung zwischen freier Szene und Stadt- oder Staatstheater.
Wir ringen darum, was gut ist, welchen Geschmack man hat: Liebt man Performance, klassisches Schauspiel oder Tanz? Die haben wir am Thalia per se erst mal nicht, Kampnagel hingegen schon. Dort würde man dafür kein klassisches Schauspiel einladen. Über solche Gegensätze haben wir uns nächtelang gestritten. Manchmal haben wir gesagt, wer um 3.00 Uhr morgens noch wach ist, hat gewonnen (lacht). Das Problem war nur, dass wir alle mit Schlafmangel ganz gut umgehen können. Wenn ich jetzt durch das Programm blättere, finde ich, dass man isoliert betrachtet bei einigen Werken verschiedener Meinung sein kann, aber in diesem Kontext sind sie stimmig. Im Unterschied zu einem Jahresprogramm – ganz egal ob von Kampnagel oder einem Stadttheater – interagieren die Stücke in so einem verdichteten Zeitraum schließlich ganz anders. Es ist ein Gesamtkonzert, oder zumindest hoffen wir, dass es eins ist.
András Siebold: Nochmal zurück zum Verhältnis von Stadttheater und freier Szene: Das Festival fällt gerade in eine Zeit, in der alle über die Internationalisierung der Stadttheater sprechen und diese auch tatsächlich stattfindet. Am Thalia Theater z.B. mit Kornél Mundruczó, der zwar jetzt Teil von Theater der Welt ist, mit dem ihr aber ohnehin eine Produktion gemacht hättet. Gleichzeitig ist die Internationalisierung als Ausweitung des Begriffs Theater das tägliche Geschäft von Orten wie Kampnagel, deren Arbeit die gesamte Theaterlandschaft beeinflusst. Man merkt, dass die Trennung, die früher vielleicht existiert hat – auf der einen Seite der internationale Bereich oder freie Szene, auf der anderen Seite Stadttheater – kaum noch existiert.
Joachim Lux: Wobei es trotzdem schwierig ist, das zu vergleichen. Wenn die freie Szene eine internationale Produktion bringt, ist diese unter den Bedingungen eines beispielsweise brasilianischen Regisseurs mit seinen Künstlern – also in einer geübten Gemeinschaft – entstanden und wird als internationales, zunächst mal fremdes Produkt auf Kampnagel gezeigt. Im Stadttheaterbetrieb existiert eine andere Reibungsfläche. Wenn wir eine fremde Theaterhandschrift wie die von Perceval oder Mundruczó einladen, trifft schon im Produktionsprozess etwas aufeinander: das andere Denken des Regisseurs auf diese letztlich deutschen Stadttheaterschauspieler. Der Regisseur kann nicht auf seine vertrauten Künstler und die mit ihnen gemeinsam entwickelte Theatersprache setzen. Da findet eine andere Form von Begegnung statt, aus der sich konsequenterweise auch etwas anderes entwickelt.
Sandra Küpper: Letztlich geht es aber beiden Systemen, dem Stadttheater und den freien Produktionshäusern, darum, die interkulturelle Gesellschaft abzubilden, in der wir leben. Und das ist der Grund, warum uns das Grenzüberwindende auch in der Kunst interessiert: Ganz gleich, ob jetzt Kornél Mundruczó am Thalia Theater oder ein anderer Künstler seine Arbeit auf Kampnagel präsentiert. Es geht dabei letztlich immer um Kulturen, die versuchen, sich über die Kunst zu verstehen – und dass dabei natürlich auch Reibungen entstehen, ist Teil des Prozesses – die Auseinandersetzung findet ja auf ganz vielen Ebenen statt - und wahrscheinlich am Ende auch das Spannende an den Ergebnissen. Genau daher kommt das Interesse der Kulturschaffenden an vielfältigen Perspektiven im Programm.
Joachim Lux: Das kann gelingen und scheitern, das ist kein a priori glückhafter Prozess. Wir haben das am Burgtheater mit einem wirklich berühmten Regisseur aus Großbritannien versucht, der an den Burgtheaterschauspielern gescheitert ist – und anschließend in Moskau einen Riesentriumph gefeiert hat. Da geht es nicht darum, ob man linguistisch eine gemeinsame Sprache spricht, sondern um die Theatersprache.
András Siebold: Wobei ich schon sagen würde, dass die Stadttheater internationaler über Theater nachdenken. Sie laden Künstler ein, deren Integration auf den ersten Blick schwierig erscheinen mag – gerade wenn jemand die Theatersprache nicht versteht und aus anderen Produktionsbedingungen kommt. An den Stadttheatern wurden in den letzten Jahren immer mehr Inseln geschaffen, damit das funktioniert – wie eben die Lessingtage am Thalia Theater oder das F.I.N.D. Festival an der Schaubühne. Und das wiederum war ja eigentlich der Grundgedanke von Iwan Nagel bei Theater der Welt: weltweit interessante Theaterformen zu zeigen.
Amelie Deuflhard: Diesen Graben zwischen Stadttheater und freier Szene, der in Deutschland immer aufgerissen wird, gibt es anderswo gar nicht. Nicht umsonst hat Antje Vollmer immer gesagt, man müsste die Stadttheaterlandschaft unter das Weltkulturerbe stellen, weil sie in ihrer Arbeitsweise so einzigartig ist. Aber das deutsche Theatersystem gehört nicht ins Museum, sondern soll zukunftsfähig und relevant für eine sich permanent verändernde Gesellschaft sein. Deshalb brauchen wir auch starke radikale und internationale Positionen in unserer Theaterlandschaft.
Joachim Lux: Das Alleinstellungsmerkmal des Stadttheatersystems besteht im Ensemble, im Repertoire und in der Literatur. Man kann das natürlich auch ins Spießige verkehren und „Literatur“ durch das Wort „Erbe“, also „heritage“ ersetzen, indem man sagt, wir sind eine Sammlung, ein Museum, das ein bestimmtes Erbe pflegt, immer wieder aktualisiert und zur Verfügung stellt. Das Theatersystem in den Ländern hängt also nicht nur von der Finanzierung ab, sondern auch vom literarischen Erbe. In Frankreich, England, Deutschland, aber auch in Osteuropa oder Russland ist das Literarische viel stärker als beispielsweise in Südamerika oder in Afrika, wo andere Theatertraditionen gepflegt werden.
Sandra Küpper: Aber das Autorentheater in Lateinamerika z.B. gibt es seit Generationen, das ist nicht nur ein europäisches Erbe. Es steht lediglich in einer anderen Aufführungstradition, auf welche Gattung man sich bezieht. Allerdings werden auf deutschen Bühnen ja auch nicht nur Dramatiker gespielt.
Joachim Lux: Aber es gibt das Erbe des Theaterstücks. Ich war jetzt gerade in Moskau. Da gibt es Tschechow, Ostrowski usw. Diese Traditionen gibt es außerhalb Europas eher wenig.
András Siebold: Das ist vielleicht das, was uns womöglich doch unterscheidet: Ihr als Stadttheater verwaltet ein Literatur-Erbe. Im Gegensatz zu Kampnagel, denn unser Bezug ist das Jetzt, wir sind Situationisten oder...
Joachim Lux: ... Kreationisten.
András Siebold: Ja, nennen wir es so. Ich glaube, was sich in den letzten 20 Jahren vielleicht verändert hat, ist, dass Kampnagel lange ein Ort war, der eher als Sprungbrett für die großen Theater funktioniert hat – ganz im Sinne des Off-Theater-Begriffs. Hier haben junge Regisseure Shakespeare inszeniert, die zeigen konnten, wie gut sie sind und dann vielleicht auch irgendwann an den großen Häusern arbeiten konnten. Heute hat sich das verändert, weil der Fokus stärker auf Themen und Formen der Gegenwart liegt und wir eine andere Aufmerksamkeit bekommen. Dadurch hat sich der Austausch verstärkt, weil die Theater uns stärker beobachten – und wir gucken vice versa wieder mehr aufs Stadttheater, da hier die Formen hybrider geworden sind. Ich finde, die Grenze ist womöglich fast verschwunden.
Joachim Lux: Wobei das ohnehin eine künstliche Grenze ist. Man kann für alles immer Gegenbeispiele finden. Christoph Marthaler beispielsweise war Theatermusiker am Stadttheater und hat begonnen, eigene Abende zu erfinden – ohne literarische Basis. Der würde anhand dieses Schemas ja eher zu Kampnagel gehören.
András Siebold: Marthaler ist mit einer freien Gruppe rumgezogen, bevor er überhaupt am Stadttheater gearbeitet hat.
Joachim Lux: Das hatte ich auch. (lacht) Ich war auch in einer freien Gruppe.
Amelie Deuflhard: Sagen wir es so: Kampnagel und die Kunstformen, die wir vertreten, ist ein Kind der Avantgarde und der Moderne. Da wurden seit 100 Jahren neue seltsame Formen entwickelt, weshalb auch mal Tomaten geflogen sind – aber irgendwann ist das auch mal in der Gegenwart angekommen. Insofern sind es zwei Systeme, die sich ergänzen, und von denen aus unerfindlichen Gründen tatsächlich das traditionellere System, das deutsche Stadttheater, auskömmlicher gefördert wird – auch wenn es die Avantgarde schon seit 100 Jahren gibt.
Wie haben Sie für das enorme Pensum von 27 Ur- und Erstaufführungen die Produktionsaufteilung vorgenommen?
Joachim Lux: Ganz nach Bedarf der einzelnen Produktionen. Und das war nicht unkompliziert, denn das bedeutet ja, dass die Künstler eine Zeitlang hier vor Ort arbeiten müssen. Natürlich nicht alle für zwei Monate, das könnten wir gar nicht bezahlen. Im Grunde arbeiten die Künstler erst mal in ihrer Heimat, dann wird die Produktion hier fertig geprobt.
András Siebold: Einige Produktionen sind logistischer Wahnsinn. Lemi Ponifasio zur Eröffnung beispielsweise ist eine echte Herausforderung für alle Abteilungen. Wo können sich 400 Teilnehmer umziehen, wo essen, wann proben die usw. Das Gleiche mit Wael Shawky, einer Produktion die wir jetzt von Hamburg aus begleiten, die aber in Schardscha in den Vereinigten Arabischen Emiraten vorgeprobt wird und dann auf Kampnagel eine Woche Endproben hat.
Sandra Küpper: Stücke hingegen, die vom Ort selbst leben, werden hier produziert – beispielsweise die brasilianische Regisseurin Christiane Jatahy, die im Baakenhöft einen Container an einen Kran hängen wird, um an diesen Ort Menschen einzuladen, die aus anderen Ländern nach Hamburg gekommen sind, Migranten und Geflüchtete ihre Geschichten erzählen zu lassen.
Joachim Lux: Ein anderes Beispiel ist die Performancegruppe The Paper Tiger Theatre Studio aus China, die Kafkas „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ machen wollten. Durch unsere thematische Setzung zum Thema Hafen kam der Regisseur Tian Gebing auf die Idee, den Text mit Infrastrukturprojekten wie dem riesigen Ningbo-Zhousan-Hafen zu verknüpfen. Und ich musste sofort an die Elbvertiefung denken. So kommt Kafkas Text schließlich auf lokaler Ebene in unserer globalisierten Gegenwart an. Die Gruppe hat natürlich überhaupt kein Geld, weil sie nicht systemkonform ist, zudem keinen Ort zum Proben, geschweige denn Technik, Licht etc. Das sind Schwierigkeiten, die wir uns hier überhaupt nicht vorstellen können.
Stand der Hafen als Denkansatz von Beginn an fest, oder hat er sich als Bindeglied ergeben, während Sie weltweit Stücke angesehen haben?
Joachim Lux: Das war von Anfang an konzeptionell gesetzt. Wir gehen vom Festivalort aus, das Thema kommt aus Hamburg. Wobei für den Hamburger an sich der Hafen ja leider eher als Touristenzone definiert ist. Und vielleicht ist das unser Auftrag: unseren Hafen, der quasi durch diese Dinge konterminiert ist, zu erobern für eine substantiellere kulturelle Nutzung.
Amelie Deuflhard: Mit dem Bau der Hafencity und der Elbphilharmonie befinden wir uns mit dem Hafen im größten Stadtentwicklungsprogramm Europas. Es bot sich also an, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die vom Hafen abzuleiten sind. Einerseits hat der Hafen Hamburg den Reichtum beschert, andererseits mit einer großen sozialen Segregation. Das Baakenhöft, das der Hafencity vorgelagert ist, ist einer der Hauptspielorte: im Moment noch waste land wie früher die Hafencity. Ein anderer Spielort ist der Oberhafen im ehemaligen Güterbahnhof: Die ehemaligen Gleise sind überwuchert von Unkraut. Dort zeigen wir „Sanctuary“ von Brett Bailey aus Südafrika. Dies ist das erste Projekt, das er in Europa entwickelt, und dafür hat er über zwei Jahre lang in Griechenland, Hamburg und Calais Flüchtlingsheime besucht. Und für diese performative Installation jetzt in Hamburg einen Ort gefunden, der passender nicht sein könnte, mit einem Weg, der ins Nichts führt.
Joachim Lux: Wir wünschen uns, dass die kulturelle Unverzichtbarkeit dieses Areals verstärkt wird, indem wir es bespielen.
András Siebold: Das Festival kommt genau zu einem Zeitpunkt, wo in der Stadt die Frage nach der Zukunft dieses Areals extrem diskutiert wird. Es gibt verschiedene Initiativen, die Ideen zur weiteren Nutzung haben; die nicht wollen, dass das so ausgebaut wird wie die Hafen City, sondern ein Recht auf Stadt für eine diverse Gesellschaft fordern. Ehrlich gesagt, als Joachim Lux anfangs mit dem Thema Hafen kam, schien es uns als das banalste Hamburg-Thema überhaupt. Aber in der Diskussion wurde es immer interessanter, plötzlich liefen ganz viele Fäden zusammen – und jetzt gibt es tatsächlich eine eher kritisch-künstlerische Perspektive auf den Hafen.
Joachim Lux: Und schließlich: Ein Hafen – was ist das überhaupt? Eine Autobahn für Waren, also der Ort, wo globaler Handel, wo Globalisierung wirklich stattfindet.
Amelie Deuflhard: Wenn man neben dem Handel von Waren auch an die Bewegung von Menschen denkt, hat uns das Thema natürlich in die Hände gespielt – die Fluchtbewegungen weltweit beschäftigen uns gerade sehr. Die Frage von Grenzen spielt auf allen Kontinenten eine Rolle, ganz gleich ob zwischen dem arabischen Raum und Europa oder in den USA unter Trump und Mexiko. Somit haben wir überall Künstlerinnen und Künstler, die sich genau mit diesen Themen auseinandersetzen – wie beispielsweise die Choreographen Bruno Beltrão aus Brasilien oder Salia Sanou aus Burkina Faso. Insofern war es eigentlich eine günstige Zeit, diese Hafenthematik als Ausgangspunkt zu nehmen – sowohl in Bezug auf Grenzen und Flucht als auch auf Warenhandel – was wiederum Kornél Mundruczós in seiner Inszenierung von Hauptmanns „Die Weber“ thematisiert.
Sandra Küpper: Ich glaube, dass man, wenn man als Theater oder Künstler darüber nachdenkt, wohin man mit seinen Arbeiten reisen wird und warum man sie irgendwo zeigen möchte, dass man dann viele Themen automatisch internationaler denkt. Wie auch Kornél Mundruczós Inszenierung von „Die Weber“: Hauptmanns Stück, das am Anfang der Industrialisierung den Schlesischen Weberaufstand beschreibt, ist ein guter Ausgangspunkt, um auf unsere Welt heute zu blicken und zu fragen, wie funktioniert denn das System, der Kapitalismus heute und wie soll dessen Zukunft aussehen? Nach wie vor gibt es die Arbeiter, die zu unfassbar schlechten Preisen ihren Job machen, damit anderswo der Reichtum funktioniert. Somit bot das Stück „Die Weber“ Anknüpfungspunkte zum Thema Hafen – und kann zugleich als globalisierter, internationaler Theaterkanon gelesen werden.
Sind sie auch zu mehreren gereist, um Produktionen anzusehen?
Joachim Lux: Ja, wir sind einzeln gereist oder zusammen – und auch nacheinander, wenn es eine zweite Meinung brauchte.
Amelie Deuflhard: Ich glaube es gibt nur einen einzigen Künstler, von dem keiner von uns live etwas gesehen hat: Tianzhuo Chen aus China. Sein Stück „Ishvara“ ist eine der drei Eröffnungsproduktionen. Als unser Programm fast fertig war, kam der Anruf der Wiener Festwochen, ob wir da nicht mit einsteigen wollen. Chen ist bildender Künstler, Shootingstar aus China, Anfang 30, der eigentlich große Ausstellungen, aber auch riesige, bildgewaltige Performances macht. In seiner Produktion beschäftigt er sich mit einer Schrift der Hochkultur, dem hinduistischen Epos „Bhagavad Gīta“. Aber in seine Arbeiten fließen auch ganz wesentlich subkulturelle und queere Ästetiken ein. Das wird ein rauschhafter Mix der Genres. Die Festwochen schreiben sogar, das sei die Neuerfindung der Oper.
András Siebold: Wir haben am Anfang schon viel über den Begriff Theater an sich diskutiert. Für uns auf Kampnagel ist Theater erst mal all das, was auf einer Bühne stattfindet, oder wir erklären den Ort einfach zur Bühne. Das heißt, in diesem Festival gibt es neben Theater mit Performern oder Schauspielern genauso selbstverständlich Tanz, Site-Specifics, Installationen, ein Riesen-Diskurs- sowie ein Film- und Musikprogramm mit fast 30 Konzerten. Ich finde, das macht dieses Festival aus: dass es einen sehr weiten Begriff von dem hat, was wir heute unter Theater verstehen.
Sandra Küpper: Das wiederum ist weltweit ähnlich. An den eingeladenen Produktionen sieht man, dass eine so starke Kategorisierung, wie wir sie aus Europa kennen, gar nicht unbedingt stattfindet, dass die Vermischung der Formen viel selbstverständlicher ist.
Amelie Deuflhard: Sich vermischen, gesampelt werden, verschwimmen: Natürlich versprechen wir uns davon auch, dass unser Programm für ein sehr diverses Publikum interessant ist – von Clubgängern bis hin zu bürgerlichem und migrantischem Publikum. Bei der Programmgestaltung hatten wir den Ehrgeiz, nicht nur neue Arbeiten zu zeigen, sondern auch Künstlerinnen und Künstler, die noch nie in Hamburg waren und auch noch nicht ununterbrochen auf den europäischen Festivals auftreten. Viele der üblichen Verdächtigen haben wir ausgelassen.
Aber La Fura dels Baus ist dann doch dabei.
Amelie Deuflhard: Das war ein Glücksfall, weil La Fura dels Baus die „Schöpfung“ von Haydn als Musiktheater im Konzertsaal entwickeln wollte ...
András Siebold: ... und wenn wir schon die Elbphilharmonie mitbespielen, dann wenigstens mit einer legendären Kampnagel-Gruppe.
Joachim Lux: Ich sage, das ist überhaupt keine Kampnagel-Gruppe. La Fura dels Baus hat in vielen Fabrikhallen gespielt und eine davon war Kampnagel. Da sind wir wieder in unserem kleinen Scharmützel (lacht). Jedenfalls sind wir stolz auf 27 Ur- und Erstaufführungen, auch wenn La Fura dels Baus vorher in Ludwigshafen rauskommt. Auch bei The Public Theatre aus New York hätten wir die Erstaufführung hier gehabt. Aber dann ergab sich für die die Möglichkeit, vorher bereits beim F.I.N.D. Festival an der Schaubühne aufzutreten. Also haben wir mehrere Sitzungen lang diskutiert und sind irgendwann weich geworden. Dann treten sie eben vorher in Berlin auf, und wir büßen ein wenig an Originalität ein. Schließlich sollte es bei einem solchen Festival in erster Linie immer um eins gehen: um die Künstler.