Theater der Zeit

Thema

Produktives Pingpong

Joachim Gerstmeier, Projektleiter Kultur der Siemens Stiftung, über Möglichkeiten, die südamerikanische Theaterszene zu vernetzen im Gespräch mit Paul Tischler

von Paul Tischler und Joachim Gerstmeier

Erschienen in: Theater der Zeit: Birgit Minichmayr – Ich bin es und bin es nicht (01/2013)

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Die internationale Arbeitsplattform „Panorama Sur“ fördert den Austausch von Theaterschaffenden in Südamerika. 2012 fand das Projekt im dritten Jahr statt. Auf wessen Initiative hin wurde es entwickelt und welcher Vorbereitungszeit bedurfte es?
Für das Pilotprojekt 2010, „Escena Sur“ in Buenos Aires, hatte die Siemens Stiftung ungefähr ein Jahr Vorlauf. Angefangen haben wir mit einer Analyse der Bedürfnisse und Notwendigkeiten: „Was fehlt?“ Die einhellige Antwort war, dass ein Raum für Zusammenarbeit, Reflexion, für Begegnungen und Auseinandersetzungen fehlt, weil jeder hier seine eigenen Dinge verfolgt. Mein Vorschlag, eine Arbeitsplattform wie die europäischen Sommerakademien für Argentinien aufzubauen, stieß auf großes Interesse. Der Regisseur Alejandro Tantanian und die Dramatikerin Cynthia Edul hatten ein Autorenseminar geplant, und daraus entstand eine Projektpartnerschaft, die wir mit lokalen, regionalen und internationalen Partnern stetig erweiterten. Auch das Goethe-Institut Buenos Aires war mit dabei.
In Lateinamerika gibt es vor allem große Präsentationsfestivals wie das FIBA (Festival Internacional de Buenos Aires) in Argentinien, das Festival Internacional de Teatro Santiago A Mil in Chile und das Festival Iberoamericano de Teatro de Bogotá in Kolumbien. Aber es gibt zu wenig Raum für Zusammenarbeit und für einen Dialog über Fachfragen hinaus. Uns ging es darum, etwas Nachhaltiges aufzubauen und es in eigene Hände zu geben. Deshalb haben wir dabei geholfen, die gemeinnützige Trägerorganisation THE – Asociación para el Teatro Latinoamericano zu gründen. Die Unabhängigkeit war uns wichtig, weil die politische Situation in diesen Ländern starken Veränderungen unterworfen ist und durch das wechselnde Personal die behördlichen Vorgänge erschwert sind. THE kann nun selbständig vor Ort arbeiten, Zuwendungen beantragen und künftig als Motor selbst Verantwortung für die Plattform übernehmen.

Wie viele Künstler aus wie vielen Ländern waren an „Escena Sur“ beteiligt?
Die Seminare hatten jeweils um die zwanzig Teilnehmer. Mittlerweile ist die Plattform zweiteilig aufgebaut: Die Arbeitstreffen, die internationalen Seminare und Kurse haben alles in allem um die achtzig Teilnehmer. Dazu kommt das öffentliche Dialogprogramm mit Aufführungen, Vortragsreihen und Diskussionen, das ungefähr 4500 Besucher zählte. Beim Pilotprojekt 2010 lag der Schwerpunkt noch auf argentinischen und spanischen Autoren, wenige kamen aus anderen lateinamerikanischen Ländern. In den Diskussionen hat sich herausgestellt, dass der Blick nach Europa sehr stark ausgeprägt ist. Was in den Nachbarländern passiert, wurde aber kaum zur Kenntnis genommen, was auch mit der fehlenden Vernetzung zu tun hat. Deshalb wollten wir einen Perspektivwechsel initiieren und den innerlateinamerikanischen Dialog stärken. Dazu braucht es Impulsgeber von außen, die Raum und Möglichkeiten schaffen. 2011 waren schon weitaus mehr lateinamerikanische Autoren dabei, aus Kolumbien, aus Mexiko, Peru, Venezuela und so weiter. Und es wurde viel diskutiert: Wie setzt ihr euch mit den gesellschaftlichen Herausforderungen in eurem Land auseinander? Welche Rolle spielt die Kunst dabei? Welchen Stellenwert hat sie in der Gesellschaft? – Genau diese Debatten, diesen Austausch wollten wir stimulieren und dabei die Kulturszene in Buenos Aires als Ressource für andere lateinamerikanische Länder nutzbar machen. Mit dem Goethe-Institut hat sich die Plattform 2012 erweitert: Über eine Exzellenzinitiative vergab das Goethe- Institut mit seinem Netzwerk an lokalen Instituten in Lateinamerika vollfinanzierte Stipendien, so dass mit wenigen Ausnahmen letztes Jahr fast jedes Land Lateinamerikas vertreten war und die Teilnehmer die reichen Erfahrungen aus dem vierwöchigen Intensivprogramm wieder in ihre Heimatländer zurückspielen konnten. Damit wird nicht nur die Zirkulation des Wissens befördert, so kommt auch der gesellschaftliche Dialog in Lateinamerika voran.

Es ist erstaunlich, dass die einzelnen Szenen der beteiligten Länder so wenig voneinander wissen, obwohl die Sprache größtenteils dieselbe ist, was sicher vieles vereinfacht.
Das hat kulturelle wie finanzielle Gründe. Ein Flug von Buenos Aires nach Bogotá kostet in etwa so viel wie ein Flug von Argentinien nach Deutschland. Solch banale Dinge spielen natürlich eine Rolle, das musste ich auch erst verstehen.

Wie kommt es, dass sich die Siemens Stiftung in Lateinamerika engagiert? Ist das mit der Unternehmensstrategie von Siemens abgestimmt?
Die Siemens Stiftung wurde 2008 von der Siemens AG als unabhängige und gemeinnützige Stiftung gegründet. Der jährliche Etat generiert sich aus den Erträgen des Vermögens der Stiftung. Wir haben nicht die Ressourcen, um weltweit präsent zu sein, also mussten wir selektieren. Das Wachstum in vielen lateinamerikanischen Ländern hat gesellschaftliche Auswirkungen, die bewältigt werden müssen. Südamerika ist neben Afrika und Europa mit allen drei Arbeitsbereichen ein Schwerpunkt der Stiftung geworden: Ausbau der Grundversorgung und Social Entrepreneurship, Förderung von Bildung sowie Stärkung der Kultur.

„Panorama Sur“ ist auf eine gewisse Nachhaltigkeit angelegt. Die Künstler, die sich hier treffen, erarbeiten in Zukunft vielleicht weitere Projekte. Sind aus den letzten drei Jahren schon gemeinsame Arbeiten entstanden?
Die Früchte eines solchen Projektes wird man erst in der Zukunft ernten, auch wenn sie nach drei Jahren nun schon begonnen hat. 2012 konnten Autoren erstmals Arbeiten zeigen, die in den Vorjahren entstanden sind. Auf der einen Seite greift das Networking, auf der anderen Seite wächst in Buenos Aires das Interesse am kreativen Potenzial des eigenen Kontinents. Das baut sich Schritt für Schritt auf. Die Dialogmöglichkeiten sind in den Programmodulen zwar angelegt, aber die informelle, soziale Kommunikation, die sich nicht steuern lässt, ist oft noch wichtiger. Sie produziert diese individuellen Verknüpfungen und Begegnungen, die sensibilisieren, konfrontieren und neue Impulse zu geben vermögen.

Das Programm wird dann in Chile fortgesetzt?
Genau. Nach drei Jahren in Argentinien steht das Partnernetzwerk und wir konnten schrittweise den Übergang zur Eigenständigkeit einleiten. Gleichzeitig haben wir die Initiative nach Chile erweitert und mit „Movimiento Sur“ bereits eine zweite Plattform aufgebaut, die auch interdisziplinäre Feldforschung einschließt. 2013 folgt eine dritte in Kolumbien, jeweils mit anderen inhaltlichen Schwerpunkten und begleitet von der Exzellenzinitiative des Goethe-Instituts. Ziel ist, dass diese drei Plattformen jährlich stattfinden und zu einem Dreh- und Angelpunkt für Wissenstransfer und gesellschaftliche Auseinandersetzung werden können, damit zentrale Fragen nach der Zukunft des Gemeinwesens, der sozialen Verantwortung oder der ästhetischen Erfahrung nicht auf der Strecke bleiben.
Für mich ist dieses Pingpong, die Kreuzung der lokalen und internationalen Perspektiven, der Finanzmittel und des Wissens, das Entscheidende bei solchen Projekten. Die dabei entstehenden Diskussionen über Haltungen, in welche Richtung man eigentlich arbeiten will, empfinde ich als einen produktiven Prozess der interkulturellen Zusammenarbeit. //

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