Auftritt
Theater Magdeburg: Freiheit im Schlafzimmerdunst
„Kleinstadtnovelle“ von Ronald M. Schernikau – Regie Florian Fischer, Bühne Sina Manthey, Kostüme, Video Cornelius Reitmayr, Musik Romain Frequency, Dramaturgie Bastian Lomsché
von Lara Wenzel
Erschienen in: Theater der Zeit: Amerikanisches Theater (11/2024)
Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen-Anhalt Florian Fischer Theater Magdeburg
Es wirkt wie eine queere Utopie: Verschlungene Gliedmaßen zwischen Seidenbettwäsche, unendliche Zärtlichkeit und Lust am Performen von Männlichkeit, Weiblichkeit und allem dazwischen. Am Ende der Inszenierung von Roland Schernikaus „Kleinstadtnovelle“ bleibt vor allem ein Gefühl hedonistischer Freiheit, das die 80er in Westberlin prägte. Dass es für den schwulen Kommunist nicht reichte sich einzurichten, ohne die Gesellschaft, in der er lebte zu verändern, verblasst an diesem sinnlichen Abend im Theater Magdeburg.
Zum zweiten Mal inszeniert Florian Fischer den Text eines Magdeburger Autors am Theater der sachsen-anhaltinischen Landeshauptstadt. Während „Gas“ von Georg Kaiser in der Tradition des Expressionismus bildgewaltig auf der großen Bühne wirkte, entfalten sich die Zeilen des damals 19-jährigen Autors nun in intimer Runde. Verteilt in Sitzgruppen taucht das Publikum in die schwulenfeindliche Szenerie einer westdeutschen Kleinstadt ein, in der Protagonist b. seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Männern macht. Der noch vor seinem Abschluss am Lehrter Gymnasium veröffentlichte Text Schernikaus erzählt eine antifaschistische Comig-Out Geschichte, in dessen Erzähler-Perspektive die Schauspieler:innen Anton Andreew, Nora Buzalka und Lorenz Krieger zu Beginn abwechselnd schlüpfen.
Mit schmalem Oberlippenbart – „der pubertäre flaum, der erfolg hat“ – langem, lockigem Haar und divenhaftem Gestus soll besonders Krieger an Schernikau erinnern, dessen Figur sich immer wieder mit dem Schüler b. vermischt. Selbstbewusst und kokett vergnügt sich der schwule Gymnasiast mit Klassenkamerad Leif im seidenbezogenen Bühnenbett. Aber die in Umkleidekabinen antrainierte „systematische glücksvernichtung“, die aus der „kleinstadtnovelle“ zitiert wird, wo Männer erzogen werden, „die schwule ticken und frauen vergewaltigen“, ist stärker als Leifs Lust. Vor der konservativen Stadtgemeinschaft behauptet er, b. habe ihn verführt. Für den Konformitätsdruck in der westdeutschen Gemeinde muss dann das Publikum herhalten und macht sich mitschuldig am gesellschaftlichen Ausschluss: Als stille Post wird der Spruch „Der Hund macht wau-wau und b. ist eine schwule Sau“ von Ohr zu Ohr weitergegeben, bis er von den letzten in der Reihe laut ausgesprochen wird. Vom Gruppendruck und der Forderung, b. solle die Schule wechseln, lässt sich seine Mutter jedoch nicht beeindrucken. Sie meint, dass Leif wohl eher den besten Sex seines Lebens hatte, denn ihr Sohn sei ein guter Liebhaber.
Nora Buzalka ist die wandlungsreichste Spielerin an diesem Abend: von der unterstützenden Mutter, die sich jede queere Person nur wünschen kann, bringt sie wenig später im Power-Anzug eine Energie auf die Bühne, die an die lesbische Hollywood-Ikone Sarah Paulson erinnert, um dann mit angestecktem Häkel-Penis toxische Männlichkeit par excellence zu performen. Doch während sie herumspringt, frisst und brüllt, schnappt sich Krieger den abnehmbaren Schwanz und wirft ihn in die Menge. Die Kastration des Über-Daddys wird zum spielerischen Schulhof-Streich.
Zwischen einigen bezaubernden Inszenierungseinfällen, wie einer Murmelbahn, die einmal um das Publikum läuft, und riesigen Rauchringen im Kunstnebel, zerfasert der Abend in der zweiten Hälfte zusehends. In einer undurchsichtigen Collage werden Schnipsel aus „Irene Binz“, „legende“ und Schernikaus berühmter Rede vor dem Schriftstellerkongress der DDR durchgespielt. Gelegentlich versucht die Inszenierung einige Wegmarken Richtung Kommunismus einzustreuen. So stimmen die Spieler:innenzwischen Pop- und Schlagerliedern auch „Brot und Rosen“, ein Lied der feministischen Arbeiter:innenbewegung, an. Dem politischen Gehalt von „kleinstadtnovelle“ und den biografischen Bezügen zu Schernikau, einem lautstarken Kommunisten, wird dies jedoch nicht gerecht. Als „Radikale Zuwendung zur Freiheit“ überschreibt die Pressemitteilung den Abend, aber wie diese Freiheit über die Grenzen eines Westberliner Schlafzimmers herzustellen sei, verschwindet im Kunstnebel.