Theater der Zeit

Kolumne

Heute nur Achtel

Ingo Günther dirigiert das Dada-Theater von Herbert Fritsch

von Ralph Hammerthaler

Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)

Assoziationen: Debatte

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„Pfusch“ hat drei Teile. Im mittleren Teil stehen elf ramponierte Klaviere an der Rampe. Jedem Klavier erbarmt sich ein schrill kostümierter, grotesk verrenkter Schauspieler mit Perücke, indem er in die Tasten haut und das tot geglaubte Instrument wieder zum Leben erweckt. Erst klingt es nach Galopp, dann nach Strawinsky, schließlich nach spitzen Hämmerchen, weil nur noch Achtel zugelassen sind. Nach den ersten dreißig Takten dieser sportlich zerdehnten Minimalmusik denk ich: Das ist die Hölle. Kurz darauf denk ich umgekehrt: Das ist der Himmel. Ob Höllenoder Himmelfahrt, es läuft unbarmherzig auf etwas zu, wo man lieber nicht ankommen will. Ganz vorn steht der Dirigent Ingo Günther in einem roten, hautengen Kleid, dazu eine blonde Perücke mit gewaltiger Tolle, und treibt die unschuldigen Achtel voran. Er führt vor, was wir im Stillen immer gedacht haben: dass der wahre Dirigent ein Dompteur sein muss.

So konkret ist das Schauspielkonzert aufgebaut, dass niemand um den geeigneten Gesichtsausdruck zu ringen braucht. Die Fresse kommt von unten, sagt Ingo, von den Fingern, vom Klimpern. Da fragt sich irgendwann keiner mehr, wie er aussieht. Das ist wie beim Sex. Wenn du geil bist, bist du geil, nichts sonst.

Als Ingo noch in Weimar wohnte, trafen wir uns am Abend bei ihm zum Essen. Das ist jetzt mindestens zehn Jahre her. Sabrina Zwach tischte Spargel auf, dazu Kartoffeln, glaub ich. Sven Schlötcke war mit und Michael Venus. Damals wollten wir mein erstes Stück „Schnappräuber“ verfilmen. Das Drehbuch war so gut wie fertig. Und Ingo, dachten wir, sollte die Musik komponieren. Er sagte zu. Aber wir schafften es nicht, das Projekt durchzuziehen.

Aus jener Zeit hab ich eine CD von ihm, Theatermusiken, denn lang schon vor der Arbeit mit Herbert Fritsch komponierte Ingo für die Bühne. Er gastierte in Jena, Weimar, Meiningen, in München, Mannheim und Bremen. Er arbeitete mit Regisseuren wie Sebastian Baumgarten, Sebastian Hartmann und Claudia Bauer zusammen. All diese Musiken klingen melodisch, etwas melancholisch und geheimnisvoll; sie sind präzise rhythmisiert und nehmen Geräusche dazu. Ein paar Mal klingelt es an der Tür. Noch heute seh ich, wenn ich sie höre, „Schnappräuber“-Filmbilder vorüberziehen – wenngleich mein Stück mit der Musik nicht gemeint war.

Du bist ein Romantiker, sagte Claudia Bauer einmal zu Ingo. Und damit hat sie etwas getroffen. Aber genauso gut könnte man ihn einen Konzeptkünstler nennen. Wie viel Konzept, wie viel Emotion, das handelt er immer wieder von Neuem aus. Als er das Ensemble in Fritschs „Frau Luna“ den Schlager „Berliner Luft“ singen lässt, einzig und allein aufs Atmen gestützt, haut es einen fast um.

Mit „Pfusch“ geht seine Zeit als Dompteur an der Berliner Volksbühne zu Ende, seine Zeit mit Herbert Fritsch aber nicht. Für die Schaubühne rüsten sie sich mit Ödön von Horváth für ihre zwanzigste gemeinsame Produktion. Ich frag mich, wie das Zusammenspiel zwischen ihnen funktioniert. Es klingt verrückt, sagt Ingo, aber wir reden nur selten über das, was wir tun. Hm, rutscht mir heraus und dann: na ja, ihr tut es halt einfach.

Wie viel Musik liegt, wenn Ingo zuhört, in einem Satz? Was assoziiert er damit? Einen Satz hab ich mitgebracht, aus Castorfs „Faust“. Er heißt: Natürlich sind fünf Margaretes besser als eine Margarete.

Ingo sagt: Diesen Satz höre ich erst mal wie eine Fremdsprache. Ich nehme seinen Klang wahr. Vielleicht fang ich dann an, rückwärts zu zählen, fünf ist besser als vier ist besser als drei. Nicht zuletzt aber suche ich nach einem Fehler, der in ihm steckt.

Bringt der Fehler Musik hervor?

Etwas Neues, ja, sagt er. Unsere Evolution beruht genau darauf.

Wie klingen fünf Margaretes?

Nein, nein, sagt er. Lieber würde ich mit Heiner Müller antworten: Zehn Deutsche sind dümmer als einer.

Damit hast du meinen Satz gekillt, sag ich. Und weil du ein Romantiker bist, wirst du der einen Margarete dein schönstes Lied schenken.

Ingo spricht, betrachtet er sich selbst, nicht vom Komponisten, auch nicht vom Arrangeur und schon gar nicht vom Sounddesigner. Er sieht sich als Theatermacher. Damit ist auch ein Anspruch formuliert. Es scheint ihm um die ganze Welt zu gehen, die auf der Bühne entsteht, ob Dada, Gaga oder der große Rest.

Für Robert Schwentkes „Der Hauptmann“ steht er demnächst vor der Kamera, als Zeremonienmeister in einem rätselhaften Hotel. Ein bisschen ist es dort so, sagt er, wie in deinem Feriencamp in „Schnappräuber“.

Zeremonienmeister also. Diese Rolle lässt ihn nicht los. Atem, Drill, Staunen erzeugen. Wer sich unterwirft, hat gewonnen. //

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