Theater der Zeit

Exklusiver Vorabdruck

Die andere Wahrheit

von Wolfgang Engler

Erschienen in: Theater der Zeit: Es ist ein Kreuz – Ein Schwerpunkt zur Bundestagswahl mit Luna Ali, Annekatrin Klepsch und Aladin El-Mafaalani (09/2021)

Assoziationen: Buchrezensionen

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Der Auftrag

Ein Theaterstück von Franz Xaver Kroetz, „Das Nest“, 1974 geschrieben, handelt von Kurt, einem Berufskraftfahrer, der mit seiner Frau Martha so einigermaßen über die Runden kommt. Nun erwarten sie ihr erstes Kind. Das macht Anschaffungen erforderlich, und sie wollen nicht geizen. Der Sprössling soll es gut haben vom ersten Tag an. Auf seinen Vater ist Verlass. Der hält sich aus allem heraus, denkt nur an die Arbeit, das wird schon. Der kleine Stefan kommt zur Welt und gedeiht. Und Kurt schiebt Woche für Woche Überstunden, wird unruhig, wenn er einmal nicht an die Reihe kommt. Dann erteilt ihm sein Chef einen „Spezialauftrag“. Für eine Sonderzahlung soll er ein paar Fässer mit Flüssigkeit in einem nahe gelegenen See entsorgen. Ohne näher nachzufragen erledigt er den Job. Wenig später erscheinen Frau und Sohn am selben Ort, um baden zu gehen. Kaum im Wasser, beginnt das Kind fürchterlich zu schreien. Es wird erst krebsrot, dann bläulich am ganzen Körper, sein Zustand verschlechtert sich rapide, es muss ins Krankenhaus. Kurt hat eine giftige Lauge in den See geschüttet, das wird ihm klar, als er davon erfährt, und das sagt er Martha, seiner Frau. Die nennt ihn einen „Mörder“, kündigt ihm die Ehe. Im Innersten beschämt, verzweifelt, wünscht er sich aus der Welt.

Bald gibt es gute Nachrichten aus der Klinik. Dem Sohn geht es besser, er wird das Säurebad ohne Folgeschäden überstehen. Martha, wieder gnädig gestimmt, möchte vergeben, vergessen. Aber für ihren Mann gibt es kein Weiterso. Er stellt den Chef zur Rede, „vergorener Wein“ lautet dessen Ausflucht. Die freche Lüge noch im Ohr, geht er zur Polizei, zeigt sich und seinen Arbeitgeber an. Die Sache macht die Runde. Der Vertrauensmann der Gewerkschaft kommt auf ihn zu, verspricht Unterstützung. Und Kurt überlegt, selbst Mitglied zu werden. „Die Gewerkschaft, das sind viele.“ Vorhang.

Ein Lernprozess mit beinahe tödlichem Ausgang, ausgeklügelt, realitätsfern, aufs Ganze gesehen, so will es scheinen. Hier wird einer im engsten Kreis von den Folgen seines ebenso blinden wie schädlichen Tuns eingeholt, unabweisbar, schmerzhaft. Lernt gleichsam hautnah. Durchstößt den Kokon, der ihn einschloss in seine kleine Welt aus Mann und Frau und Kind. Macht den Vorfall öffentlich, übernimmt Verantwortung. Geht infolge des Kurzschlusses von Handlung und Handlungsfolgen womöglich als ein anderer daraus hervor. Ein Sonderling, ein Sonderfall, kontrafaktisch zu den Verlockungen der Moderne, schadlos Schaden anrichten zu können, unentdeckt zu bleiben, ungreifbar; das Unheil baden andere aus, irgendeiner, irgendeine.

Aber vielleicht ist das inzwischen unser Fall – trotz (oder aufgrund) der immer noch weiter ausgreifenden Verlängerung und Verzweigung der Handlungsketten, hinter der die Akteure in ­Deckung gehen können. Vielleicht stehen wir an einem Wendepunkt und es fällt nicht mehr so leicht, sich ins Dickicht der ‚abs­trakten Gesellschaft‘ zu verkrümeln. Mögen viele weiter davon träumen, ungeschoren davonzukommen, wenn sie sorglos ihren Privatfisch schwimmen lassen. Aber da ist noch eine andere Wahrheit, eine konkrete, die unter die Haut geht, die alle Tricksereien, alle Versteckspiele nicht gänzlich zum Schweigen bringen können. Eine Wahrheit, die es schwer hat, ins Bewusstsein vorzudringen, das Wort zu ergreifen. Plötzlich erscheint sie an der Oberfläche, und die Tarnung fliegt im Handumdrehen auf: „Als Kinder, noch bei Gewitter in einer Kornhocke, haben wir gedacht: uns sieht einer. Wir werden alle gesehen.“

Und nun?
Antreten zum Moralappell?
Je suis Kurt – zumindest so lange, bis auch uns der Schlag trifft und wir endlich sehen, wer wir sind?
Was hat es auf sich mit der späten Einsicht, die Kroetz seinem Protagonisten zuschreibt und die er uns zur näheren Prüfung unterbreitet?

Leibhaftiges Denken

Betrachten wir den (fiktiven) Akt der Bewusstwerdung einmal aus der Nähe. Wir haben es hier in keiner Weise mit einer Kopfgeburt zu tun, im Gegenteil. Das Denken hat Kurt in seine missliche Lage gebracht, einseitiges, folgenblindes Denken. Er denkt viel, zu viel, denkt weg vom Ausgang seines Tuns, denkt diesen gleichsam zu, verwehrt, denkend, seinem Instinkt, der ihm hätte sagen können, sagen müssen, dass da etwas faul ist an der Sache, jede Mitsprache bei der Ausführung des Anschlags. Denkt an all denen zielsicher vorbei, die die bräunlich rote Flüssigkeit, die er ins Wasser laufen lässt, buchstäblich ausbaden müssen, macht „dabei kein verängstigtes Gesicht, eher triumphierend, selbstverständlich“. Denkt den See in dem Moment als Neutrum, das sich nicht wehren und dem er antun kann, was ihm beliebt.

Derart schirmt er sich von allem ab, was die Erledigung seines fischigen Auftrags im letzten Augenblick durchkreuzen könnte: vom Leben im See, von künftigen Badegästen, von sich selbst als Wesen aus Fleisch und Blut. Geht, nur mehr die Prämie im Kopf, bedacht zu Werke und macht sich aus dem Staub.

Kurt, kein Zweifel, ist ein Kind der Moderne.

Je suis Kurt! Doch dann trifft ihn der Schmerz mit einer Wucht, die die Kreatur in ihm aus der Fesselung befreit. Von Weinkrämpfen geschüttelt, schlägt er sich vor die Brust, greift, willens, sich aufzuhängen, zu einer Leine, lässt davon ab, nimmt eine Rasierklinge zur Hand, da tritt Martha mit der guten Botschaft in die Wohnung, die ihn nicht tröstet: „Mir graust vor mir, Martha.“ Sein Leib übernimmt die Führung, arbeitet sich zu dieser Selbsterkenntnis durch, gegen den Widerstand des Kopfes. Es folgen Taten: Warnschild am See, (erweiterte) Selbstanzeige, Tuchfühlung mit der Gewerkschaft. Lange schien es ihm vernünftig, von seiner Vernunft keinen Gebrauch zu machen. Als er zum ersten Mal vernünftig denkt, denkt er, von Schuld gepeinigt, unter Schmerzen.

Damit, mit Schuldgefühlen, waren Eingriffe in die Umwelt – Jagen, Roden, Graben etc. – während der längsten Zeit der Menschheits­geschichte eng verbunden. Archaische Opferriten und Opfermythen haben darin ihren Ursprung, desgleichen Erzählungen von menschlicher Hybris, von einer Urschuld des Menschen, als der zum homo faber wurde, seine Umgebung mit Faustkeil, Speer traktierte, mit Pfeil und Bogen. Erdverbundene Fraktionen des Produktionsprozesses, Bergleute etwa, bewahrten dieses Erbe, heutige Erntedankfeste weisen zurück in eine Zeit, in der die Menschen, von Mächten umgeben, die unerforschlich waren, stärker als sie, um den guten Ausgang ihrer Sache fürchten mussten.

Marx übersetzt „Arbeit“ als „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“, und das wird sie bleiben, bis der letzte Zentner ­fossilen Brennstoffs verglüht ist. Mit der Zeit verblasste die konkrete, stoffliche Erfahrung des Arbeitens immer mehr, für immer umfänglichere Teile des „Gesamtarbeiters“. Die weitaus meisten, die diesem Moloch zuzurechnen sind, vollziehen irgendeine seiner weitläufigen Unterfunktionen, ohne sich dabei auch nur im Geringsten zu ‚beflecken‘. Welche Schuld sollte der Fallmanager einer Versicherungsgesellschaft angesichts des Unrechts verspüren, das ein x-beliebiges Unternehmen der Erde antat, als es sachfremd, zerstörerisch in diese eingriff? Sollte es Geschädigte geben, die den Verursacher verklagen, wird er an seinem Platz das Seine tun, um Schaden von seiner Firma abzuwenden; das ist ihm aufgetragen, das allein, mag dabei ein ganzes Ökosystem zugrunde gehen. Schadensabwicklung nach den Maßgaben der Moderne, auf dem Verfahrensweg, auf dem kein Jota Schuld sich einmischt.

‚Seine‘ Firma? Warum denkt, handelt der Zahlenfuchs auf diese Weise, obwohl ihm kein einziger Bürostuhl gehört? Wo­rauf beruht seine Bindung an fremdes Eigentum und was bewirkt sie?

Produktiv gleich profitabel?

Kroetz’ Versuchsanordnung versammelt alle Elemente, um eine Geschichte zu erzählen, die lange vor Kurt begann und die noch immer währt. Es ist die Geschichte einer großen Verkehrung, einer großen Ungerechtigkeit und einer leisen Hoffnung.

Da ist der Fuhrunternehmer, der seinen Schnitt machen will, machen muss, ist er doch nicht allein auf seinem Feld. Konkurrenten sitzen ihm im Nacken. Um möglichst gut abzuschneiden, entsorgt er Abfälle seiner Firma zu geringen Kosten in die Umwelt: hundert Mark für den Fahrer, ein paar Mark für den Diesel. Lässt sie entsorgen. Von Kurt, seinem Angestellten. Der ist anstellig, weil er nur leben kann, wenn er Arbeit findet und leistet, die für den Arbeitgeber profitabel ist. Das geschieht, wenn Kurt während längerer Zeit für diesen tätig ist, als er benötigt, um den Gegenwert all dessen zu erwirtschaften, was ihm als Lohn zuteilwird. Das ist das Geheimnis der „Ausbeutung“, auch der gut entlohnten.

Auf Kurt passt das hässliche A-Wort gar nicht so schlecht. Ihm gehört nichts von dem, womit er täglich in seiner Arbeit umgeht. Dieser Umstand hängt mit einer Enteignung zusammen, der man einen in die Irre führenden Namen gab: „ursprüngliche Akkumulation“. ‚Graue Vorzeit‘, meint man da, längst vergangen, abgetan. Tatsächlich ereignet sich dieser Vorgang, der das moderne Privateigentum geschaffen hat, stets von neuem, wenn sich Geld in Kapital verwandelt, sich Land, Bodenschätze, Wälder, Seen, ganze Stadtquartiere unter den Nagel reißt, Zugang nur denen gewährt, die dafür zahlen. Kurt steht da hintenan. Seine Dienste werden nicht besonders gut entlohnt. Das macht ihn gefügig, Arbeiten nach Dienstschluss zu übernehmen, schlechte Arbeit, schädliche.

So wird er korrumpierbar, zum Mitgefangenen der wohl größten Tatsachenverdrehung seiner, unserer Welt, die darin besteht, produktiv, fruchtbar, nützlich etc. nur das zu nennen, was sich rechnet, Profit abwirft. //

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