Das Paradox der liberalen Grenze und ihre dialektische Aufhebung durch die Flüchtenden
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Das Gespenst des Populismus – Ein Essay zur politischen Dramaturgie (01/2017)
Die aktuell ungebrochene Hegemonie des liberalen Populismus gründet auf seiner deutlich höheren Komplexität als die der veralteten Populismen von rechts und auch von links. Wenn eine notwendige Bedingung des Populismus darin besteht, eine Grenze zwischen einem Wir und einem Sie zu ziehen, so ist die Grenze des liberalen Populismus von einer kategorisch neuen Qualität. Seine Grenzziehung ist dynamisch, ohne erkennbare Autorität, und seine Negation des Anderen erfolgt durch dessen Integration.
Die Grenzen des Neoliberalismus – seien es die Zugänge zu Bildung, bezahlter Arbeit, Privilegien oder Staaten – bestehen in einer behaupteten Durchlässigkeit für alle. Die alltägliche Beobachtung, dass aber nicht alle Teil des privilegierten Innenraums sind, wird dadurch erklärt, dass die Schuld für einen gescheiterten Grenzübertritt immer beim Einzelnen liegt. Jeder könnte teilhaben, es liegt bei ihm selbst, ob er es schafft oder nicht. Man wird bei einer solchen paradoxen Grenze nicht zufällig an Kafkas Wartenden vor dem Gesetz erinnert, der sein Leben lang vor einer Tür wartet, um am Ende zu erfahren, dass er hätte hindurchgehen können und er selbst durch sein Warten die Tür verschlossen hat.
Die Grausamkeit einer solchen Grenze besteht in ihrer propagierten Offenheit und ihre Intelligenz besteht in dem Mechanismus, der den Ausschluss nicht der...