III. Stanislawski und die Folgen
Über das Schauspielen. Ein Fundament legen: Die Realität des Handelns
Quelle 11
von Sanford Meisner
Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)
Assoziationen: Schauspiel
Meisner: Was passiert als erstes, wenn das World Trade Center gebaut wird – ihr kennt doch das Gebäude?
Student: Sie heben ein Loch aus.
Meisner: Tja, natürlich heben sie ein Loch aus. Sie kleben es nicht auf den Fußweg! [Gelächter] Was hat man zuerst getan, als das Empire State Building gebaut wurde?
Studentin: Zuerst mussten sie ein Fundament legen.
Meisner: Sie mussten ein Fundament legen, auf dem …
Studentin: … das Gebäude errichtet wurde.
Meisner: … das Gebäude errichtet wurde.
29. September
„Die Grundlage des Schauspielens ist die Realität des Handelns.“
Es ist der Beginn der ersten Unterrichtsstunde des Semesters und sofort benennt und wiederholt Sanford Meisner dieses scheinbar einfache Thema. „Wartet, lasst uns das noch einmal sagen. Das Fundament des Schauspielens ist die Realität des Handelns. Die Realität des Handelns. Gut, aber woher sollt ihr wissen, was das bedeutet? Ich werde es verdeutlichen.“ Nach einer kurzen Pause fragt er: „Hört ihr mir zu? Hört ihr mir wirklich zu?“ Im Chor antworten die Studenten: „Ja, ja.“
„Ihr tut nicht nur so, als ob ihr zuhört. Ihr hört zu. Ihr hört wirklich zu. Meint ihr das?“
„Ja, ja.“
„Das ist die Realität des Handelns. An dieser Aussage besteht wohl kein Zweifel. Wenn ihr etwas tut, dann tut ihr es wirklich! Seid ihr heute morgen die Treppe zu diesem Klassenzimmer hinaufgegangen? Ihr seid nicht hinauf gesprungen? Ihr seid nicht hinaufgehüpft, richtig? Ihr habt keine Pirouette gemacht? Ihr seid diese Treppe tatsächlich hinaufgegangen.“
|148|Er hält inne, um das kleine Mikrofon zu justieren, das am linken Bügel seiner Brille befestigt ist. „Wie viele von euch hören mir gerade zu?“ Gehorsam erheben sich sechzehn Hände. „Hört mir also kurz zu. Jeder für sich, horcht auf die Zahl der Autos, die ihr draußen hören könnt. Legt los.“
Die Studenten, acht Männer und acht Frauen zwischen Mitte zwanzig und Anfang dreißig, beugen sich vor und lauschen angestrengt den Geräuschen des New Yorker Straßenverkehrs, der durch das Brummen der Klimaanlage dringt. Bald schließen einige ihre Augen. Eine Minute vergeht.
„Okay“, sagt Meisner zu einem jungen Mann mit einem gepflegten braunen Bart, „wie viele Autos hast du gehört?“
„Keine“, antwortet der Student. „Ich habe ein Flugzeug gehört.“
„Ein Flugzeug ist kein Auto. Du hast also keins gehört. Erlaubst du mir folgende Frage: Hast du als Du selbst hingehört oder hast du eine Rolle gespielt?“
„Als ich selbst.“
„Was ist mit dir?“, fragt er ein dünnes, dunkelhaariges Mädchen, das wie ein Model aussieht.
„Zuerst habe ich als Studentin hingehört.“
„Das ist eine Rolle –“
„Und dann war ich verwirrt, weil ich kein Auto hören konnte und die Geräusche verwirrend waren. Dann hörte ich, was ich ziemlich sicher für ein Auto hielt, und dann wurde mir langweilig, und dann hörte ich ein weiteres Auto. Also habe ich zwei Autos gehört.“
„Die Langeweile werden wir hier nicht diskutieren.“ Die Klasse lacht. „Du behauptest also, du hast hingehört – wie heißt du?“
„Anna.“
„Hast du als Anna hingehört?“
„Zum Schluss.“
„Also hast du zu einem Teil wirklich gehandelt und zu zwei Drittel nur so getan.“
„Ja.“
„Wie viele Autos hast du gehört?“ Die Frage ist an eine Frau Ende zwanzig mit üppigem dunklem Haar gerichtet.
„Ich war mir nicht sicher, welche Geräusche von Autos kamen.“
|149|„Warst du wirklich verwirrt oder warst du in deiner Rolle verwirrt?“
„Ich weiß es nicht. Für mich war es so, als hätte ich die ganze Zeit über nicht wirklich etwas getan.“
„Du warst also zur Hälfte Schauspielerin.“ Dann wendet er sich an einen jungen Mann mit kariertem Wollhemd und Jeans: „Wie viele Autos hast du gehört?“
„Keine.“
„Keine. Hörtest du als –“
„Ich habe als ich selbst gehört, nur als John.“
„Das ist es, was ich wissen möchte. Ist doch ein schönes Gefühl. Okay, jetzt sucht ihr euch eine Melodie aus, die ihr mögt, und singt sie euch selbst vor – nur für euch selbst, nicht laut. Klar? Fangt an.“
Wieder schließen manche Studenten ihre Augen und nach ein paar Sekunden der Konzentration fangen ihre Köpfe an, im Takt der verschiedenen Melodien zu wippen, die sie jeweils nur für sich hören.
„Wie viele Leute haben das gemacht?“, fragt Meisner. „Für sich selber oder theatralisch? Wer kann das beantworten?“
„Bei mir war es halb und halb“, sagt die junge Frau namens Anna.
„Du hast ein Problem. Was ist dein Problem?“
„Ich war mir sehr bewusst, dass ich mich in einem Raum voller Leute befinde, die bewusst unterschiedliche Melodien hören. Etwa nach der Hälfte der Zeit habe ich mich so über mich selbst aufgeregt, dass ich es endlich vergessen konnte.“
„Und singen?“
„Ja.“
„Dann wurdest du gut.“
„Dann hat es mir Spaß gemacht, ich weiß nicht, ob ich gut war.“
„Es macht immer Spaß, gut zu sein.“ Er wartet einen Moment und wirft seinen Blick auf einen untersetzten, blonden, knabenhaften Mann in der vordersten Reihe. „Was ist mit dir?“
„Ich habe mir selbst etwas vorgesungen.“
„Wie Hamlet?“
„Ich habe versucht, die Melodie zu genießen.“
„Hast du das? Für dich selbst, nicht als Hamlet?“
Als Nächstes bittet Meisner die Klasse darum, die Anzahl der Glühlampen im Raum zu bestimmen. Die Antworten bewegen sich zwischen zwölf und sechzehn, je nachdem, ob man die rote Lampe über dem Notausgangschild mitzählt oder die drei ausgeschalteten Flutlichtstrahler ausschließt, die von einem Balken in der Mitte der Decke herabhängen. Die Antworten sind unwichtig; was entscheidend ist, ist das Ausführen der Aufgabe, das Zählen der Glühlampen, und nicht die Ergebnisse. „Habt ihr in einer Rolle gezählt – also theatralisch“, fragt Meisner „oder habt ihr gezählt?“
„Neunhunderteinunddreißig mal achtzehn – versucht mal, das im Kopf zu rechnen“, setzt er fort. „Neuneinunddreißig mal achtzehn.“ Die richtige Antwort ist 16.758 und keiner bekommt es auch nur annähernd heraus. Aber darum geht es nicht. „Vielleicht habt ihr Recht, vielleicht liegt ihr falsch“, sagt Meisner. „Das ist wie im Leben. Menschen kommen zu verschiedenen Ergebnissen. Deshalb sind manche Demokraten und andere Republikaner. Aber wie viele haben es versucht? Wisst ihr, es ist in Ordnung, falsch zu liegen, aber es ist nicht Ordnung, es nicht zu versuchen.“
„Passt auf“, sagt Meisner, „schaut euch den Partner an, der neben euch sitzt. Und dann zählt ihr mir, wenn ich euch darum bitte, eine Liste mit allem auf, was ihr beobachtet habt.“ Sechzehn Köpfe drehen sich, um den Menschen zu mustern, der ihnen nun zum ersten Mal als „der Partner“ vorgestellt wird.
Als sie gefragt wird, sagt das blonde Mädchen in der zweiten Reihe über den jungen Mann rechts von ihr: „Ich habe rotes Haar gesehen. Ich habe ein zartgrünes Hemd mit pinken, grauen und beigen Streifen gesehen, und es war mittelgroß. Mir ist ein Ausschlag an seinem Hals aufgefallen. Er hat blaue Augen und kurze, dünne, helle Wimpern. Kleine Hände. Ziemlich kräftig. Lehnt sich viel nach vorn. Untersetzt. Grüne Hose. Braune Schuhe – Leder, mit Gummisohlen, glaube ich. Saubere Ohren und saubere Fingernägel. Schmale Lippen, die er geschlossen hält und die meist nach unten zeigen –“
„Okay. Wurden diese Beobachtungen von dir gemacht oder von einer Figur aus einem Stück?“
|151|„Ich weiß die Antwort nicht. Ehrlich, ich kann nicht ganz unterscheiden, wer wer ist.“
„Sprichst du jetzt mit mir oder spricht Lady Macbeth?“
„Ich rede mit dir.“
„Du bist es. Das bist du höchstpersönlich. Deine Beobachtung war unmittelbare, unverfälschte Beobachtung. Was du beobachtet hast, hast du beobachtet, nicht eine Figur in einem Theaterstück.“ Er fragt John, den jungen Mann im Karohemd: „Schaust du mich gerade an?“
„Ja.“
„Als Othello?“
„Nein.“
„Als wer?“
„Als ich selbst, nehme ich an.“
„Stimmt. Kannst du das auch weiterhin tun?“
„Ich möchte euch eine Frage stellen und ich will, dass ihr bitte, euch und mir zuliebe, die Wahrheit sagt. Wie viele Leute in dieser Klasse können sehr gut hören?“ Nach einem Moment der Verwirrung heben sich sechzehn Hände. „Dann hört zu, ich verlange etwas von euch. Jeder sagt, er oder sie kann hören. Ihr könnt hören? Ihr könnt mich hören?“
Sie antworten: „Ja.“
„Ich will euch eine weitere Frage stellen, eine etwas kompliziertere. Ihr sagt, ihr könnt hören. Das ist gut. Könnt ihr ganz exakt wiederholen, was ihr hört? Ich meine das ganz einfach. Ich spreche nicht von der Unabhängigkeitserklärung. Ich meine ‚Trinkst du Kaffee?’ Könnt ihr das wiederholen?“
„Trinkst du Kaffee?“, fragt eine Frau mit kurzen, braunen, gestuften Haaren.
„Du hast es getan, also kannst du es. Aber weißt du, was du mir da sagst? Als erstes hast du gesagt, du kannst hören. Du hast auch gesagt, du kannst wiederholen, was du hörst. Du kannst das auch zurücknehmen, wenn du willst! In Ordnung, ich akzeptiere.“
„Wir können die Worte wiederholen“, sagt eine dunkle, breitschultrige, junge Frau.
„Das ist alles, wonach ich frage – nicht nach dem Sinn, nur nach den Worten.“
|152|„Nein“, sagt die Frau. „Ich meinte, wir können nicht exakt wiederholen, was wir hören. Wir können unsere eigene Vorstellung der Worte wiederholen.“
„Du kannst ganz genau wiederholen, was du hörst. Soll ich es dir beweisen?“
„Ich glaube dir.“
„Wie heißt du?“
„Rose Marie.“
„Rose Marie, warum solltest du mir glauben? ‚Dein Haar ist lang.’ Wiederhole das.“
„Dein Haar ist lang.“
„Also kannst du es doch! Ich habe ja nicht den ersten Akt von Onkel Wanja rezitiert, den du vielleicht noch nie zuvor gehört hast. So, wer ist dein Partner?“ John, der junge Mann im Karohemd, hebt seine Hand. „Jetzt schaust du sie an. Was beobachtest du an ihr? Nicht ihre emotionale Verfassung, sondern etwas, was für dich irgendwie interessant ist.“
„Sie ist sehr … Ich wollte sagen, sie ist sehr wach und aufgeschlossen.“
„Das ist eine emotionale Beobachtung. Ich bin nicht ganz so schlau. Ich sehe nur, dass sie einen pinken Pullover trägt.“
„Okay.“
„Ich sag dir mal was. Du bist ein Denker.“
„Ich weiß“, sagt John, „deshalb bin ich ja hier.“
„Dann hör sofort damit auf!“ Die Klasse lacht. „Siehst du, dass sie einen pinken Pullover trägt? Siehst du, dass ihr Haar mal wieder gekämmt werden müsste? Siehst du die Farbe ihrer Hose?“
„Ja.“
„Okay, du hast mir gesagt, dass du hören kannst und außerdem hast du mir gesagt, dass du wiederholen kannst. Das bedeutet, dass du herausfinden können solltest, was dich an ihr interessiert, und du dich dazu äußern kannst. Anschließend, Rose Marie, wiederholst du genau das, was er sagt, und du, John, wiederholst genau das, was sie sagt. Tut das, bis ich euch stoppe.“
„Dein Haar glänzt“, sagt John.
„Dein Haar glänzt“, wiederholt Rose Marie.
„Dein Haar glänzt.“
„Dein Haar glänzt.“
„Dein Haar glänzt.“
„Dein Haar glänzt.“
„Nein“, sagt Meisner und stoppt sie, „ihr interpretiert die Worte, um Abwechslung zu schaffen. Lasst das. Macht es noch mal mit einer anderen Beobachtung.“
Nach einem Augenblick sagt John: „Dein Ohrring ist klein“, und Rose Marie sagt: „Dein Ohrring ist klein.“ Sie wiederholen den Satz fünf oder sechs Mal, bis Meisner sie stoppt.
„Okay, jetzt glaube ich, dass ihr beide hören könnt, und ich glaube auch, dass ihr wiederholen könnt, was ihr hört. Das ist nicht alles, aber es ist ein Anfang. Du hast ihre Ohrringe beobachtet. Du hast sie kommentiert. Du hast wiederholt, was du gehört hast. Bis jetzt habt ihr einander zugehört und wiederholt, was ihr gehört habt. Eben darum hatte ich euch gebeten.“
Die Studenten finden sich zu Paaren zusammen und die Übung, die Meisner das Wortwiederholungsspiel nennt, wird wieder und wieder durchgeführt. Der knabenhafte, blonde, junge Mann mit dem Namen Philip wird zum Partner der Brünetten mit dem Stufenschnitt, die Sarah heißt. Sie wiederholen seine Äußerung „Deine Augen sind blau“ immer und immer wieder, bis Meisner sie stoppt.
„Gut“, sagt er. „Das kommt euch sicher unglaublich albern vor, oder? Aber es ist ein Anfang. Hört ihr einander zu? Wiederholt ihr, was ihr hört? Das tut ihr.“
Nachdem ein anderes Paar den Satz „Du hast glänzende Ohrringe“ wiederholt hat, sagt er: „Es ist mechanisch, es ist unmenschlich, aber es ist die Grundlage. Es ist monoton, aber es ist die Grundlage.“
Nachdem Anna und ihr Partner ein Dutzend Mal oder öfter „Dein Hemd trägt einen leuchtend pinken Schriftzug“ wiederholt haben, sagt er: „Ja, so stimmt’s. Es ist leer, es ist unmenschlich, richtig? Aber es steckt etwas darin. Es hat eine Verbindung. Ihr hört einander doch zu? Das ist die Verbindung. Es ist eine Verbindung, die aus dem gegenseitigen Zuhören entsteht, aber sie hat keine menschliche Qualität – noch nicht. Wenn ihr euch Notizen machen wollt, schreibt ‚Dies ist ein Pingpong-Spiel.’ Es ist die Grundlage für das, woraus eventuell ein emotionaler Dialog werden wird.“
Meisner macht eine kurze Pause. „Jetzt werde ich euch zeigen, an welcher Stelle es problematisch wird.“ Er wendet sich einer jungen Frau zu, |154|deren braunes Haar zu einem dicken Zopf geflochten ist. „Du hast eine bestickte Bluse. Stimmt das?“
„Nein.“
„Was ist dann die Antwort?“
„Nein, ich habe keine bestickte Bluse.“
„Das ist richtig!“, sagt er. „Das ist die Wiederholung aus deiner Perspektive. Sofort entsteht ein Kontakt zwischen zwei Menschen.“ Zu Sarah sagt er: „Du hältst einen Stift.“
„Ja, ich halte einen Stift.“
„Ja, das tust du.“
„Ja, das tue ich.“
„Stimmt! Schon ist menschliche Sprache entstanden, nicht wahr? Zuerst ist da die mechanische Wiederholung. Dann kommt die Wiederholung aus deiner Sicht.“ Er sieht die junge Frau mit dem üppigen dunklen Haar an. „Du machst dir Locken.“
„Ja, ich mache mir Locken.“
„Ja, tust du.“
„Ja, ich mache mir Locken.“
„Ich sagte ‚Ja, tust du.‘“
„Ja, tue ich.“
„Ja, ich kann sehen, dass du das tust.“
„Ja, du kannst sehen, dass ich das tue.“
„Belassen wir es dabei. Das ist das Wortwiederholungsspiel aus deiner Perspektive. Das ist doch schon menschliche Konversation, oder nicht?“
Dann sagt Meisner zu dem jungen Mann, auf dessen Hemd ein leuchtend pinker Schriftzug prangt: „Du starrst mich an.“
„Ich starre dich an.“
„Du starrst mich an.“
„Ich starre dich an.“
„Du gibst es zu?“
„Ich gebe es zu.“
„Du gibst es zu.“
„Ich gebe es zu.“
„Das gefällt mir nicht.“
„Ist es dir egal?“
„Es ist mir egal.“
„Es ist dir egal?“
„Es ist mir egal!“
Meisner streckt dem jungen Mann die Zunge heraus und er und die Klasse lachen.
„Das ist das Wortwiederholungsspiel. Es darf nicht zu weit gehen; das lasse ich nicht zu. Wenn ihr also zu Hause zusammen arbeitet, macht die Übung mechanisch, so wie ihr angefangen habt. Anschließend übt ihr, sie aus eurer Perspektive zu machen.“
„Ich habe diesen Unterricht mit der Feststellung begonnen, dass die Realität des Handelns die Grundlage des Schauspielens ist. Was sagt diese Definition, wenn wir an das denken, was wir bisher getan haben?“
John sagt: „Wenn wir einfach handeln, konzentrieren wir uns nicht auf uns selbst.“
„Ihr seid an etwas außerhalb von euch selbst gebunden“, ergänzt Meisner. „Was noch?“
„Wenn man wirklich handelt, dann hat man keine Zeit, sich beim Handeln selbst zu beobachten. Man hat nur die Zeit und die Energie, die Handlung auszuführen“, sagt Ray, der junge Mann mit dem adretten Bart.
„Das ist sehr gut für euer Handeln. Noch etwas?“
Sarah sagt: „Alles scheinen sehr konkrete, machbare Dinge zu sein.“
„Alles, worum ich euch gebeten habe, war konkret und ‚machbar’? Was meinst du mit ‚konkret’?“
„Na ja, es ist erfahrbar. Man kann jemanden anschauen und tatsächlich seine Wimpern zählen oder man kann die Glühlampen zählen.“
„Etwas, das wirklich, wirklich selbst existiert“, sagt Meisner. „Also was bedeutet ‚Realität des Handelns’?“
Ein ernst aussehender junger Mann, der zuvor nichts gesagt hat, erklärt: „Wenn man etwas tut, tut man es wirklich, anstatt nur vorzutäuschen, es zu tun.“
„Und ihr tut es nicht in einer Rolle. Wenn ihr Klavier spielt, öffnet ihr zuerst den Deckel oder spielt ihr es einfach geschlossen?“, fragt Meisner. |156|„Also auf die Musik bezogen ähnelt das Öffnen des Klaviers der Realität des Handelns. Gibt es dazu irgendwelche Fragen?“
„Du hast uns Dinge aufgegeben, die man wirklich machen kann, wie eine andere Person zu beobachten oder auf Autos zu hören“, sagt Ray. „Und wenn man wirklich darauf konzentriert ist, einfach nur Autos zu hören oder eine bestimmte Person anzusehen, muss man sich keine Sorgen machen, zu einer Figur zu werden. Du hast genau eine Sache zu tun und darauf konzentrierst du dich.“
„Das ist die Figur.“
„Das ist die Figur?“, fragt Ray.
„Genau.“
„Also muss man nicht vorspielen, die Figur zu sein, sie liegt genau in dem, was du tust.“
„Genau. Verstehen ihr das? Jedes Stück, sei es von diesem Komödienschreiber – wie ist sein Name?“
„Neil Simon?“
„Ja. Jedes Stück basiert auf der Realität des Handelns. Sogar wenn Lear dem Himmel mit der Faust droht, dann beruht das auf dem Schauspieler, der gegen das Schicksal wettert. Könnt ihr das verstehen?“ Er hält inne. „Das wird in euch noch länger weiterarbeiten, als ihr es im Moment vermutet. Das ist in Ordnung. Es wird sich selbst offenbaren. Es wird nach und nach zum Vorschein kommen. Es ist die Grundlage, das Fundament des Schauspielens.“
„Ein neuer Anfang. Du dachtest, ich würde aufhören!“, sagt Meisner zu seinem Assistenten, Scott Roberts, als sie auf den Fahrstuhl warten, der sie zu Meisners getäfeltem Büro eine Etage unter dem Klassenzimmer bringen wird. „Jemand sollte mich erschießen, so wie sie es mit alten Pferden tun.“
Scott nickt und lächelt.
„Aber, weißt du, diese Klasse ist eine reizende Gruppe, und vielversprechend. Die Frage ist nur, wie viele von ihnen das Schauspielen lernen werden?“
Scott nickt erneut und drückt den Knopf für den Fahrstuhl noch ein weiteres Mal.
|157|Im Untergeschoss erdröhnt ein Elektromotor zu Leben.
„Ich unterrichte seit über fünfzig Jahren und in dieser halben Ewigkeit habe ich versucht, wirklich tausenden jungen Leuten beizubringen, wie man spielt. Und ich war gar nicht so schlecht. Bei dir zum Beispiel habe ich das ganz gut hinbekommen.“
„Danke“, sagt Scott.
„Aber wenn ich mich dazu durchringen könnte, mich näher mit meiner Gesamterfolgsrate zu befassen, würde ich wahrscheinlich kapitulieren, also tue ich es nicht.“
Der Fahrstuhl kommt an und sie steigen ein.
„Schauspielen ist eine Kunst. Und Schauspiel zu unterrichten, ist auch eine Kunst, oder kann es wenigstens sein. Letztlich ist es eine Frage des Talents – wie sich ihres mit meinem verflicht. Wir werden sehen. Aber ich muss sagen, es ist schön, wieder anzufangen!“
Sanford Meisner and Dennis Longwell: On Acting, New York 1987, S. 16 – 25 (Übersetzung von Elisa Falk und Georg Feitscher)
Sanford Meisner (1905 – 1997), US-amerikanischer Schauspieler, Schauspiellehrer und Gründungsmitglied des Group Theatre. Von 1935 bis 1990 unterrichtete er an der Neighborhood Playhouse School of Theatre in New York seine einflussreiche Schauspieltechnik, heute bekannt als Meisner Technique. Diese beruht auf Meisners Auseinandersetzung mit den Lehren Stanislawskis, Lee Strasbergs und Stella Adlers und fordert vom Schauspieler, eigene Handlungen und Gefühle als wahrhaftige Reaktionen auf das Handeln des Schauspielpartners zu begreifen.