Theater der Zeit

Essay

Schau mal einer an

Kritik meets Essay: Eine kritische Nachdenkerei über die Performance „IHOPEIWILL“ und die Sehnsucht nach einem verbindenden Blick zwischen Performerin und Zuschauerin

Der Text entstand im „Labor Kulturjournalismus“, einer Kooperation zwischen tdz.de und der „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“.

von Sarah Kilter

Assoziationen: Sachsen Dossier: Labor Kulturjournalismus Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste

„IHOPEIWILL“ von threeiscompany & Jaro Viňarský. Foto Vojtěch Brtnický
„IHOPEIWILL“ von threeiscompany & Jaro ViňarskýFoto: Vojtěch Brtnický

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Im Alltag, da tauscht man ja immer wieder Blicke mit Fremden aus. Einen beiläufigen Blick, einen abcheckenden Blick oder einen starrenden, der am Ende in einem Machtspiel mündet und wer wegguckt, verliert. So ein Blickcontest ist schrecklich. Also wenn du ihn verlierst. Wenn du ihn gewinnst, kann er auch ganz befriedigend sein.

Aber einen freundlichen, liebevollen und absolut unverfänglichen „ich sehe dich“-Moment mit einer fremden Person zu haben, mit einem Fremden über eine Distanz ausschließlich über die Augen zu kommunizieren, das ist ein Blick von einem ganz anderen Kaliber. An der Kasse im Supermarkt, im Park oder an einem Bahnsteig einer mittelgroßen Kleinstadt eine Fremde anzusehen und in ihrem Blick für einen kurzen Moment das Gefühl zu bekommen, verstanden zu werden, gesehen zu werden, das ist warm. Das ist unverfänglich. Das ist Vertrauen. Das ist für einen klitzekleinen Moment merkwürdig tiefe Verbundenheit. Und dann ist es vorbei. Beide Personen waren Fremde. Bleiben Fremde. Auch wenn es dazwischen mal ganz kurz warm war. Vielleicht ist das das besonders Schöne an der ganzen Sache. Für beide Seiten ist klar, dass nichts, was in diesen Blick hineininterpretiert wurde, jemals einzulösen ist.

Auch im Theater werde ich regelmäßig Zeugin eines solchen magic Theatermoments. Selbst erlebt habe ich ihn aber nie. Das Ausbleiben dieser besonderen Theatererfahrung lässt mich manchmal zweifeln. Hey, du da auf der Bühne, jetzt fixiere mich endlich, jetzt schau mir in die Augen. Hier in Reihe 3 auf Platz 11, da will jemand Verbundenheit, da will jemand Vertrauen.
So klappt das natürlich nicht. Ist klar.

Mit einer großen Sehnsucht nach diesem Blick, bin ich immer wieder Teil eines Publikums. Im Festspielhaus Hellerau in JWD in Dresden beispielsweise, wo ich mir „IHOPEIWILL“ von threeiscompany & Jaro Viňarský ansehe. In der Perfomance schaue ich Soňa Ferienčíková dabei zu, wie ihr Körper zur Spule wird und sie sich das eigene Leben Stück für Stück vom Körper wickelt. Dieses Leben ist ein zig Meter langes Band, dessen Farbe besonders für die Personen mit Leichtigkeit als elfenbein zu identifizieren ist, die durch unzählige Folgen eines Brautkleidsuche-Formats im Fernsehen darin geschult sind, verschiedene Weißtöne akkurat zu unterscheiden. Dieses elfenbeinfarbene Band wickelt sich Ferienčíková im ersten Teil der Performance – während einer Videoinstallation – in etlichen Runden um ihren Oberkörper.

Und während sich Ferienčíková dann im zweiten Teil der Performance den engen Panzer Leben vom Oberkörper wickelt, schnallt sie das Band in Karabinerhaken, die in einem Viereck auf der Bühne hängend montiert sind, fest. Durch Ferienčíkovás Bewegungen – in ihren Abkürzungen und Umwegen – zieht ein ganzes Leben im gesamten Bühnenraum seine Bahnen. Wunderschön! Der Bühnenraum sieht aus wie eine Kletterpyramide auf einem Kinderspielplatz, die man aber nicht in einem Sandkasten montiert, sondern eher in einem Museum of Modern Arts installiert hat. Zu schade, dass Ferienčíková auf diesem Spielplatz nicht herumtollt oder in den elastischen Bändern eine Runde Gummizwist spielt. Vielleicht hat Ferienčíková nicht die richtige Tobekleidung an, um mal unbeherrscht dem eigenen Affekt nachzugehen. Alles geschieht in einer derartig zusammengenommenen Ernsthaftigkeit, dass mich der Gedanke überkommt, am Ende der Performance dürfe ich nicht klatschten, sondern müsse stattdessen universitär mit den Handknöcheln auf den Tisch klopfen, um Beifall zu zollen.

Im Laufe der Perfomance steigt Ferienčíková auf eine in der Luft schwebende Kreuzung, die ihr Leben genommen hat. Ihr Körper vibriert dabei vor Körperspannung und die gesamte elfenbeinfarbene Konstruktion zittert mit ihr. Plötzlich aber rutscht die Performerin mit ihrem Fuß vom Band, das sie mit ihrem Gewicht auf dem Boden fixiert. Als Konsequenz schnellt es plötzlich hoch und peitscht ihr, zack, zwischen die Beine. Unbeabsichtigt grotesk. Jetzt bloß nicht in kindlichem Affekt losprusten, denke ich und versuche mich zusammenzureißen. Denn hier ist kein Raum für Humor oder Selbstironie. Hier ist Performance in Sad Beige Mom-Ästhetik. Schön und schade zur selben Zeit. Kurz darauf dreht sich die Performerin zu der Zuschauertribüne, in der auch ich sitze. Ich fühle mich ertappt – wie ein Schulmädchen im Angesicht der Lehrerin, das unbedingt den drohenden Eintrag ins Klassenbuch verhindern möchte. Ich setze meinen freundlichsten und dem Unterricht gebannt lauschenden Back to school-Gesichtsausdruck auf. Offene Augen, ein unaufdringliches Lächeln ohne Zähnezeigen, den Kopf leicht geneigt. Das ist meine leichteste Übung. Ohnehin fühle ich mich in einem Theatersaal oft in Schulzeiten zurückversetzt. Egal ob Bühnenraum oder Klassenzimmer – der Toilettengang außerhalb der Pause bleibt nur in den seltensten Fällen unkommentiert.

Die gut einstündige Performance kommt ganz ohne Pause aus. Man macht ja auch keine Pause vom Leben, man stirbt. Und so vererbt Ferienčíková ganz zum Schluss, als sie sich schließlich ihr Leben komplett von ihrem Spulenkörper gewickelt hat, das Endes ihres Lebens ans Publikum und legt sich erschöpft und weinend auf den Boden. Und da passiert es nochmal. Soňa Ferienčíková und ich, wir haben Blickkontakt. Ich fühle mich von Ferienčíková regelrecht fixiert. Da ist sie ja, diese Möglichkeit auf Verbundenheit mit einer Unbekannten, nach der ich mich gesehnt habe. Aber anstatt Vertrauen zu spüren, habe ich Mitleid mit der auf dem Boden Liegenden, die weinend am Ende ihres Lebens ist, während ich lebendig und erhöht auf der Zuschauertribüne sitze.

Und ich tue das, von dem ich glaube, dass es das Richtige ist. Ich schaue sie so gutmütig und respektvoll wie nur möglich an, um dieses Machtgefälle irgendwie auszugleichen und versuche dabei tunlichst, sie nicht zu bemitleiden. Ich sitze im Publikum und bin Service, bin Dienstleistung, bin US-amerikanisch kundenfreundlich.

Ich zwinge mich weiter ihrem Blick standzuhalten, weil da immer noch die Hoffnung in mir ist, dass der Blick noch zu etwas Warmem wird. Aber es wird nicht warm. Vielmehr geht ein Gedankenkarussell los: Wenn hier die Grenzen zwischen Zuschauenden und Performenden nicht ganz trennscharf sind, muss man dann als Zuschauende der auf dem Boden liegenden Weinenden aufhelfen oder ihr zumindest tröstend über den Kopf streicheln? Wird es mir später vielleicht sogar zum Vorwurf gemacht, dass ich nichts getan habe? Und ist die Person, die mich weinend ansieht eigentlich noch Bühnenfigur oder schon Privatperson? Oder ist das Ganze doch ein Machtspiel und wer wegguckt, verliert? Überprüft die Performerin mit ihrem Blick gerade, ob ich von ihrem Werk gerührt bin? Ich fühle nicht so viel, wie ich glaube fühlen zu sollen. Und es beschämt mich, das im Angesicht der Performerin zugeben zu müssen, die selbst sehr viel zu fühlen scheint.

Ich schaue schließlich weg – verstohlen und hilflos im Saal umher.

Soňa Ferienčíková legt sich zum Finale in Embryonalstellung auf das Klettergerüst, während ihr Körpergewicht von einer Person aus dem Publikum gehalten wird, der die Performerin das Ende des Bandes anvertraut.

Später sitze ich in einem Nachgespräch zu „IHOPEIWILL“. Darin spricht Ferienčíková von einem Blick, den sie in ihrer Performance gerade mit einer Frau aus dem Publikum hatte, die diesen Blick aber dann aus einem unerfindlichen Grund gelöst hat. Und ich denke still, diese Frau, das bin ich, und sehe Soňa Ferienčíková für einen kurzen Moment vertraut an.


Das „Labor Kulturjournalismus“ ist eine Kooperation zwischen der „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“, initiiert vom Bündnis internationaler Produktionshäuser, Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste in Dresden und Theater der Zeit.

Die 2019 gegründete „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“ hat zum Ziel, Theaterjournalismus im deutschsprachigen Raum zu stärken – in der Überzeugung, dass ein öffentlicher Diskurs über Theater, Tanz und Performance wichtig für Kunst und Gesellschaft ist. 

Die Akademie versteht sich als Möglichkeitsraum, in dem journalistische Praxen gegenstandsgerecht gedacht, erprobt und zur Diskussion gestellt werden können. Im Rahmen einer neuen Kooperation entwickeln die Teilnehmenden des fünften Akademiejahrgangs Texte und Videos, die das Verständnis von Kulturjournalismus und Theaterkritik herausfordern und erweitern. Das Labor ermöglicht neue Formate, Schreibstile und Textformen. 

Weitere Texte und Videos aus dem „Labor Kulturjournalismus“ gibt’s hier auf der Website und auf unserem Instagram-Kanal @theaterderzeit.

Verantwortlich Theater der Zeit: Lina Wölfel und Nathalie Eckstein
Verantwortlich Akademie für zeigenössischen Theaterjournalismus: Esther Boldt und Philipp Schulte

Erschienen am 13.2.2025

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