Magazin
Gendersternchen inklusive
Das Festival Spieltriebe in Osnabrück erkundet die Verhältnisse der Geschlechter – und vergisst dabei eines
von Daniel Benedict
Erschienen in: Theater der Zeit: Götterdämmerung – Polen und der Kampf um die Theater (10/2017)
Assoziationen: Sprechtheater Akteure Niedersachsen Theater Osnabrück
„Macht*Spiel*Geschlecht“ hat das Theater Osnabrück die siebte Auflage des Festivals Spieltriebe überschrieben. Mit den Sternchen dringt die geschlechterneutrale Sprache bis in den Festivaltitel; tatsächlich folgen die zwölf Inszenierungen dem Zeitgeist weniger streng, als die Geste vermuten lässt. Das gilt schon für den Ausgangspunkt, Sara Stridsbergs „Valerie Solanas, Präsidentin von Amerika!“ – das Stück, das alle Zuschauer sehen, bevor sie auf fünf Routen Spielorte im ganzen Stadtgebiet aufsuchen. Mit wütender Pose und heimlichem Schmerz spielt Maria Goldmann die Extrem-Feministin, die alle Männer vernichten wollte und am 3. Juni 1968 Andy Warhol niederschoss. Die deutsche Erstaufführung schildert Stationen der Selbstradikalisierung Solanas, vom Missbrauch im Kindesalter über den Selbstentwurf als intellektuelle Prostituierte bis zum enttäuschten Künstlertum in der Factory.
Marlene Anna Schäfers Inszenierung funktioniert als exzentrische Fußnote zur Frauenbewegung – als Festivalauftakt führt sie in die Sackgasse. Feminismus wird hier als Verirrung eines Einzelschicksals pathologisiert und durch seine Gewalt komplett diskreditiert. Und weil Solanas Denken selbst in moderateren Passagen von Biologismen durchdrungen ist, bleibt es ohne jeden Anschluss an die aktuelle Debatte. All die Transgender-Geschichten, Diskursparodien und Frauenschicksale, die noch folgen, können sich nur davon abgrenzen.
Am schönsten gelingt dieses Absetzen einem Stück, das sich mehr für den Spielortwechsel als für das Festivalthema interessiert: Sophia Barthelmes findet im Schützenverein einen Raum vor, der schon undekoriert wie eine Marthaler-Bühne aussieht. Das Publikum zwängt sich hier an enge Tische, auf denen Linsen keimen wie die banale Saat des Bösen. Drumherum und drüber paradieren Elaine Cameron, Stefan Haschke und Thomas Kienast im Rhythmus defekter Spieluhr-Figurinen, stellen Wirtshausschlägereien nach, schenken beißende Schnäpse aus – und skandieren im Kasernenhofton verletzliche Liebesverse von Kaléko bis Celan. Das Ergebnis ist ein dichter Kontrapunkt aus Lyrik und Biertischtümelei, der schon wegen seiner erfreulichen Deutungsoffenheit zum Spieltriebe-Höhepunkt wird.
Das KollektivEINS führt das Festivalthema mit einer furiosen Übermalung des „Wizard of Oz“ ad absurdum; in seiner „Zauberin von Oz“ assoziiert das Quartett den queeren Filmklassiker mit der Tablettensucht seiner Hauptdarstellerin und legt Dorothy, der Hexe und dem Blechmann eine Suada gängiger Gender-Thesen in den Mund. In atemloser Komik (sehr lustig: Carolin Wiedenbröker) werden sämtliche Geschlechterfragen diskutiert und gleich wieder veralbert – aufdringlich mitgesprochene Gender-Sternchen im Dialog der „Schauspieler*innen“ inklusive.
Jana Vetten kontert den fernen Schauerfeminismus des Solana-Stoffs mit unmittelbarer Nähe: „I am a bird now“ dramatisiert die Lebensgeschichte einer Osnabrücker Bühnenarbeiterin, die als Junge geboren wurde. Der Mix aus Tanz und Sprechtheater beschreibt eine Geschlechtsumwandlung vom Amt bis in den OP, und gerade ein gewagtes Intro, das den Abend als frivole Freak-Show einführt, weckt dabei eine fröhliche Neugier, die dem oft angstbesetzten und konfrontativen Gespräch über Trans- und Genderthemen guttut. Ein fiktionales Pendant ist Emmanuel Darleys Monologstück „Dienstags bei Kaufland“, das Nina de la Parra als deutschsprachige Erstaufführung zeigt – passend in einer leerstehenden Drogerie. Diese Transgender-Geschichte stellt Akzeptanzfragen ins Zentrum und gibt dem gefürchteten Mitspiel-Gag einen ungewohnten Sinn: Wer von Marie Pierre (Christina Dom) auf die Bühne geholt wird, kriegt zumindest eine kleine Ahnung von der Folter des Angestarrt-Werdens.
Mit Sybille Bergs Mutter-Tochter-Komödie „Und dann kam Mirna“ bekommt auch die alltägliche Not weiblicher Selbstfindung ihren Platz im Festival; um Durchschnittsmänner geht es dagegen nirgendwo. Dass neue Rollenbilder auch für das Geschlecht mit der geringeren Lebenserwartung und der höheren Selbstmordrate interessant sein könnten – diesen Gedanken formulieren die Spieltriebe leider nie. //