Altes Lied
von Ulrike Haß
Erschienen in: Kraftfeld Chor – Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek (01/2021)
Assoziationen: Theatergeschichte
Die Erfindung der alten Leier
Die alte Leier der zwei Geschlechter gehört zu jenen Erfindungen, die ständig neu erfunden werden müssen. Mit dem Begriff der Erfindung ist die Gewissheit verbunden, dass sich die alte Leier nicht unendlich, überhistorisch und universell perpetuiert, zumal sie sich nicht von sich aus und schon gar von selbst erhält. Sie benötigt die permanente Aktivität derer, die sie am Leiern halten, samt all der Unregelmäßigkeiten, Abweichungen und Verweigerungen, die in einem solchen Prozess möglich sind und die ihn als performativen ausmachen. Soweit die Hoffnungen, die mit dem Begriff der Erfindung einhergehen. Unter dem Druck von Macht, Missbrauch, Gier und Eros kann sich die alte Leier der zwei Geschlechter jedoch unversehens auch in einen unter Hochdruck stehenden, geschlossenen Behälter verwandeln, der einem psychopolitischen Reaktor gleicht. Die Lawine, die aus ihm hervorquillt, wenn jemand wie ein Engel seinen Panzer durchsticht, ergießt sich internetforenweit und spaltet die Meinungen.
SCHNEE WEISS (Die Erfindung der alten Leier) betitelt Elfriede Jelinek ihr Stück, das sie Anfang 2019 auf ihrer Homepage veröffentlichte. Anlass für dieses Stück sind die Enthüllungen der ehemaligen Ski-Rennläuferin Nicola Werdenigg über sexuellen Missbrauch im österreichischen Skisport der 1970er Jahre. Jelinek weitet diesen Fall, der in der Öffentlichkeit für Aufsehen...