Magazin
Sprungbrett für Selbsterfindung
Bilanz nach einem Jahr Neustart der Theaterakademie Hamburg
von Peter Helling
Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)
Assoziationen: Hamburg

Fast alles ist neu am Wiesendamm in Hamburg-Barmbek. Ein langgestreckter Klinkerriegel, hundert Jahre alter Fabrikcharme. Hier wurden früher Werkzeugmaschinen hergestellt, auch von Zwangsarbeitenden im Zweiten Weltkrieg. Heute? Elegante weiße Fenstersimse, ein massives Eingangsportal aus dunklem Metall. Innen betritt man ein luftiges, nüchternes Foyer, einen Aufenthaltsraum mit Gemeinschaftsküche und hippen, geschwungenen Sitzmöbeln aus Holz: Die sind bei den Studierenden noch nicht richtig populär, aber das kommt schon noch, sagt Schauspielstudentin Emma Bahlmann mit einem Lächeln aus ihrer Zoom-Kachel. Zuletzt haben sie ein paar hässliche Sofas angeschleppt, langsam, sagt sie, kriegt der neue Campus Patina und so was wie „Studi-Flair“, wie sie es nennt. „Es tut mir leid um die neue Ausstattung“, aber vielleicht muss das sein, dieses subversiv Widerständige. Hier soll es schließlich entstehen: das neue Theater.
Im April 2021 sind sie eingezogen. Nach einer 16-jährigen Odyssee durch die Stadt hat die Theaterakademie die Räume bekommen, die ihr schon damals versprochen worden waren. Emma Bahlmann, die im dritten Jahr Schauspiel studiert, hat noch das letzte Hochschul-Domizil in der Hamburger City Nord miterlebt. Ein Beton-Ungetüm. Rau, aber cool. Und jetzt? Uncoole Neubau-Optik? Sabina Dhein ist seit 2012 Direktorin der Hochschule, ihre Bilanz nach einem Jahr Wiesendamm: „Sehr positiv! Wir sind angekommen, haben tolle Projekte hier gemacht, die Studierenden nehmen das an“. Unter dem neuen Dach versammeln sich nicht nur fünf Studiengänge, darunter Schauspiel und Schauspieltheaterregie: Die Akademie hat jetzt gleich zwei Bühnen. Sogar ein festes Technikteam.
Ortswechsel in den MalerSaal des Deutschen SchauSpielHauses. Zweite Vorstellung von „[BLANK]“, Alice Birchs grob gezimmerter Szenenfolge von Menschen zwischen Drogen, Abstiegsängsten und Sehnsucht. Emma Bahlmann spielt Echse, einen Teenager irgendwo in einer Suburb, vor kahlen Wänden in Betonoptik. In der Abschlussinszenierung des dritten Jahrgangs kommt jeder und jede zur Geltung, die Männer mit Nagellack und Kajal, die Frauen toughe Energiebündel, halb Göre, halb Jugendknast, die Träume verwaschen wie die Schminke auf den Wangen. Emma Bahlmann spielt sich in einen Drogenrausch hinein, lässt ihr rotes langes Haar kreisen wie einen Propeller, dass man meint, sie hebt gleich ab. Splitter einer Jugend ohne Eltern, ohne Schutzraum, „blank“ eben. Julia Hölscher inszeniert das Stück in dynamischen Wechseln. Sie nimmt sich als Regisseurin sehr zurück, gibt den jungen Spielenden einen Raum. Und da spürt man große spielerische Freiheit, Körperlichkeit, Lust auf Neues.
Sabina Dhein hat Lust auf Neues, auch wenn der Umzug eine Herausforderung war: „Ich hab’ jede Fuge kennengelernt. Lange blieben die Bühnen unbenutzbar, weil irgendwas im Suezkanal hängen geblieben war“. Jetzt haben sie neben den beiden Bühnen fünf Regieräume, drei Schauspielstudios, ein Opernstudio, sogar einen Kostümfundus. Bei allem neuen Komfort: Die Theaterakademie igelt sich nicht ein. Neben den Abschlussprojekten am SchauSpielHaus und dem Thalia Theater gibt es Kooperationen mit der UdK Berlin, mit Kampnagel, dem Puppentheater ein paar Hundert Meter entfernt und dem Museum der Arbeit, man will sich ins Stadtviertel Barmbek öffnen. Last but not least muss man nur einen der langen Gänge entlang westwärts gehen, eine Tür öffnen, und schon steht man mitten in einem professionellen Theater: dem ebenfalls neu eröffneten Jungen SchauSpielHaus. Emma Bahlmann wird hier bald ihre erste Gage verdienen.
Für Antonie Zschoch war der Umzug nach einem Jahr Zoom-Unterricht in die geleckten neuen Räume fast ein Schock. „Ich bin hier richtig reingestolpert“. Es war der Regiestudentin im zweiten Jahr alles zu neu und zu heilig. Inzwischen hat sie sich an die neuen Räume gewöhnt. Sie gehört zu den Ersten, die beim neu gegründeten Programm Drama mitmachen: Da werden schon in der Ausbildung Theaterfamilien gegründet. Eine angehende Autorin, eine Regiestudentin, ein Dramaturgie-Student etwa erforschen Stoffe interdisziplinär, sagt Antonie Zschoch. „Hier wird kollektiv gearbeitet, wird die Regierolle hinterfragt.“ Sabina Dhein formuliert es so: „Wir stellen die Rahmenbedingungen zur Verfügung, aber erfinden müssen sich die Studierenden selbst“. Antonie Zschoch und Emma Bahlmann erleben eine Theaterwelt im Umbruch. Erzählweisen werden infrage gestellt. Es geht um Diversität, Gender-Gerechtigkeit, flache Hierarchien, Vernetzung. Emma Bahlmann ist überzeugt, sie können sich hier ausprobieren, „das kann auch mega in die Hose gehen, das ist auch okay, gehört dazu“. Und: „Es geht so los, hab ich das Gefühl!“ Und vielleicht nehmen die Studierenden irgendwann die S-förmigen Sitzmöbel in der Gemeinschaftsküche an. Es geht so los. //