Theater der Zeit

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Auftritt

Theater Rudolstadt: Am letzten Lagerfeuer

„Kein schöner Land. Ein deutscher Volksliederabend“ – Szenische Einrichtung Steffen Mensching und Michael Kliefert, Musikalische Leitung Udo Hemmann und Thomas Voigt, Ausstattung Ronald Winter

von Michael Helbing

Assoziationen: Thüringen Theaterkritiken Steffen Menschig Theater Rudolstadt

Wo man singet, da lass dich ruhig nieder: Katrin Strocka sowie dahinter Markus Seidensticker, Laura Bettinger und Marcus Ostberg in „Kein schöner Land“. Foto Anke Neugebauer/Theater Rudolstadt
Wo man singet, da lass dich ruhig nieder: Katrin Strocka sowie dahinter Markus Seidensticker, Laura Bettinger und Marcus Ostberg in „Kein schöner Land“.Foto: Anke Neugebauer

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Zwei Tage, bevor eine rechtsextreme und also völkische Partei als mit Abstand stärkste Kraft in Thüringens Landtag gewählt wird, deren Programm „heimatlicher Volkskultur“ das Wort redet, bringt das Theater Rudolstadt einen deutschen Volksliederabend heraus. Kennte man dieses Haus und dessen Intendanten nicht besser, der das mit seinem Chefdramaturgen höchstselbst einrichtete, könnte man schon auf Ideen kommen, zumal jene Partei dann in beiden Wahlkreisen der Region ihr Landesergebnis einigermaßen erwartbar noch klar übertrifft.

Ist das nun also vorauseilender Gehorsam, zumal sich der Abend zwischen heimeligem Fachwerk des 17. und 18. Jahrhunderts ereignet, an den „Thüringer Bauernhäusern“ nämlich, einem Freilichtmuseum im Heinrich-Heine-Park? Oder pfeift hier nicht doch vielmehr konzertierter Gegenwind unter dem Deckmantel der Traditionspflege hervor so, wie durchs alte Gemäuer?

Nun, auf den ersten Blick lässt sich weder das eine noch das andere wirklich behaupten. Das ist, und entspricht insofern der Programmatik des Hauses, ein integrierender Abend, der niemanden vor den Kopf stoßen und schon gar nicht mit Zaunpfählen winken mag. Eines subtilen und mitunter subversiven Untertons enthalten sie sich deshalb aber noch lange nicht.

Das geht schon los, als der sich überrumpelt gebende Markus Seidensticker zwecks Überbrückung mal eben etwas über die Motivation hinterm Volkslieder-Abend erzählen soll, weil sich seine Kollegen angeblich verspäten (bevor sie mit Müllers Lust herbei wandern). Er flüchtet sich zu Christian Morgensterns „Lämmerwolke“ am blauen Firmament: „Sie blökt nach ihrem Volke, das sich von ihr getrennt.“ Später geht a capella, mit dem gleichnamigen Lied und doppeldeutig wie so vieles hier, ein dunkle Wolk herein. Und in die erste Strophe des Titelliedes, „Kein schöner Land“, womit der zweite Teil beginnt, fräsen sie nach jeder Zeile bedenkliche Pausen. Die Irritation ist umso größer, als dass dies eines der Lieder ist, die das vorwiegend betagtere Publikum halbwegs textsicher mitsingen kann und ja wohl auch soll.

Das Theater flackert hier einmal mehr als letztes Lagerfeuer auf, um das sich einstweilen noch alle versammeln können (oder könnten). Es geht um Besinnung und Besinnlichkeit gleichermaßen. Man darf dabei ruhig im Hinterstübchen behalten, dass Seumes Diktum, „Wo man singet, da lass dich ruhig nieder, (…) böse Menschen haben keine Lieder“, bei Lichte und Geschichte betrachtet unhaltbar bleibt.

Jenseits aller Subtexte bedeutet das rein handwerklich einen dramaturgisch gut gebauten Abend mit einem gewissen Spannungsbogen, beginnend mit fünf singenden Schauspielern, Schritt für Schritt auf acht erweitert. Jedes Lied wird szenisch gestaltet und erzählt auch jenseits der Texte Geschichten, viele kommen zudem musikalisch überraschend daher. In Summe wirkt das so ziemlich kitschbefreit wie es sich auch über die kühn gemalte Landschaftskulisse unter bunten Lampions sagen lässt, in der das zwischen und auf Gemüsekisten stattfindet. Dort gruppiert sich das ohnehin nicht zur auffälligen Diversität neigende Ensemble in fröhlicher Runde indes als ungebrochen dominierende weiße Mehrheitsgesellschaft, wie sie ja auch im Publikum sitzt. Fremdes und Befremdliches fehlt gänzlich.

Der Zufall wollte es, dass dieser Abend ausgerechnet in jenes Jahr fällt, in dem das berühmte, stets Anfang Juli der Folk-Roots-Weltmusik gewidmete Rudolstadt-Festival, das Heinepark und Bauernhäuser zu seinen Spielorten zählt, seinen Länderschwerpunkt Deutschland widmete, zwischen Kuba im vergangenen und Mali im kommenden Jahr. Deshalb war einiges aus diesem Volkslieder-Abend bereits dort zu hören gewesen. Dessen Programm umfasst indes viereinhalb Jahrhunderte: vom anno 1536 notierten Vagantenlied „Wo soll ich mich hinkehren, ich armes Brüderlein?“, woraus Johannes Geißer eine frische Bardennummer zaubert, bis zum Berlin-Lied aus dem 1989 erschienenen „Reisebilder“-Album von Steffen Menschings langjährigem Bühnenpartner Hans-Eckardt Wenzel.

Pragmatisch betrachtet, beginnt hier eine Rudolstädter Theatersaison ungewöhnlicherweise so, wie sie traditionell auf der Heidecksburg endet: mit Sommer-, in diesem Fall Spätsommertheater. Es kommen, hört man, zu dieser Zeit bei entsprechendem Wetter sonst einfach noch nicht so viele Leute in die Stammspielstätte. Also geht es zum Auftakt einigermaßen heiter zu, wenn die Herren aus ihrem blökende Schafe imitierenden „Mäh“  das Lied „Mädchen, warum weinest du“ entwickeln, oder wenn der Souffleur zum Kohlenhändler-Gassenhauer „Mutter, der Mann mit dem Koks ist da“ weißes Pulver in jenen Topf kippt, über den die liebe Liese später vom lieben Heinrich wissen will, was zu tun sei, wenn dieser aber nun ein Loch hätte.

Solo- und Ensemblenummern wechseln sich in diesem Programm recht sinnfällig ab. Katrin Strocka macht dabei aus „Es wohnte eine Müllerin z’Schaffhausen an dem Rhein“ ein saftiges Couplet, Laura Bettinger gestaltet „Ich hab die Nacht geträumet“ denkbar fragil. Zwischen den Liedern reihen sie lakonisch Sprichwörter, Redewendungen, Volksweisheiten aneinander. Einmal stimmen sie in einem verschachtelten Medley alles an, was ihn zum Thema Vogel einfällt, ein anderes Mal rühren sie Fress- und Sauflieder zusammen.

Und dann wieder Zeilen wie diese: „O, armes Deutschland, wie kannst du es ertragen, dass deine Völker werden so verbannt?“ Das stammt aus „Ein stolzes Schiff“ über Auswanderer nach Amerika im 19. Jahrhundert, intoniert nun in Stunden, da über Zuwanderung gestritten wird und mancher aufgrund der politischen Lage über Auswanderung nachdenkt.

Nicht nur an dieser Stelle erweist sich dieser Abend als listig und geschickt zwischen Subtext und Kontext frei flottierend. Er zurrt und nagelt, bei spielerischer Raffinesse, nichts fest, sondern führt unter freiem Himmel intellektuell ins Offene. Das wirkt jenseits allen propagandistischen Theaters widerständiger als es scheint.

Erschienen am 2.9.2024

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