Bürgerliche Indienstnahme des Theaters
Das einzigartige Individuum und seine (Theater-)Identität
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Langfristig gesehen konzentrierte sich die bürgerlich geprägte Theaterkunst auf die intensive Beschäftigung mit dem höchst komplexen Wesen des einzigartigen Einzelnen, seinen idealen Vorstellungen von sich selbst, seiner Identität und seinen neu gewonnenen Möglichkeiten, wie sie sich aus den tatsächlichen enormen Veränderungen Europas und damit der Welt seit dem 15. Jahrhundert ergeben hatten. Dieses Individuum begriff sich, oder konnte sich begreifen, als einzigartige, an und für sich machtvolle Kraft, in diesem Sinn als Gestalter und sowohl Mittel- als auch Endpunkt allen Geschehens. So dürfte es begonnen haben, intensiv in sich selbst zu schauen und von sich selbst als einem großen Ganzen zu denken, mit dem Anspruch, es habe (oder müsse haben und bewahren) etwas unverwechselbar Eigenes als unveränderliches Selbst und unauslöschliche Identität. Das dürfte die Auffassung versteift, wenn nicht gar geboren haben, wir hätten „ein Selbst in der gleichen Weise, in der wir einen Kopf oder Arme haben, und innere Tiefe in der gleichen Weise wie Herz oder Leber“.129
Von Augustins Wende zur Innerlichkeit über Denkansätze von Descartes, Montaigne und Locke bildete sich in Europa die Ansicht von einem „punktförmigen“ Selbst als ein festes Phänomen aus. Das bedeutete an der Wende zum 18. Jahrhundert „desengagierte Loslösung von der kosmischen Ordnung“...