Die Arbeit am künstlerischen Text
Die Sprache aushören
von Viola Schmidt
Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)
Die Sprache ist lautmalerisch. Den Stecken ergreifen, die Wolken rütteln, mit Donnerkeilen wettern – das sind starke sprachliche Bilder mit einer Fülle von Plosivlauten. Wir untersuchen die rhythmische und klangliche Struktur der Sprache und probieren aus, wie sie den Gestus verändert. Was assoziieren wir, was nehmen wir wahr, wie wirken unsere Äußerungen auf uns und andere? Geduldig die unterschiedlichen Schichten des Textes freizulegen, bringt meist mehr, als alle Informationen auf einmal hineinzuarbeiten. Die Studierenden sollen durch diese Form der Textarbeit befähigt werden, sich Texte selbstständig zu erschließen. Antiloch lässt sich von Odysseus’ Ausbruch lediglich zu einem: „Element!“, was soviel wie „Donnerwetter!“ heißen kann, hinreißen. Aber er bleibt am Thema, stellt die Frage nach den Motiven der Amazonen, legt den Finger also in die Wunde, denn diese Motive bleiben Odysseus, allerdings nicht nur ihm allein, verborgen. Er kann die Frage nicht beantworten und berichtet nun die ganze Geschichte seines Auftrags: „Wir zogen aus, auf des Atriden Rath, /Mit der gesammten Schar der Myrmidonen,/ Achill und ich.“ Der Atride ist Agamemnon, der oberste Feldherr der Griechen, Bruder des Menelaos, des Gemahls der Helena, die von Paris nach Troja entführt wurde, was wiederum den Trojanischen Krieg ausgelöst hat. Agamemnon hat nun also persönlich geraten oder vielleicht sogar befohlen, dann ließe sich dem Wort Rat noch ein besonderer Ton geben, das gesamte Heer des Achill, die berüchtigten Myrmidonen, gegen ein Bündnis der Amazonen mit den Trojanern einzusetzen. Einerseits verdeutlicht Odysseus so inhaltlich die Brisanz der Situation, andererseits macht er sich auch wichtig. Er brüstet sich. Vielleicht versucht er, Antiloch öffentlich vorzuführen, da dieser anscheinend auch keine Hilfe zur Lösung der Situation anbieten kann. In diesen Versen müssen wir die Bezüglichkeiten beachten. Es handelt sich nicht um eine Aufzählung, vielmehr ist herauszuarbeiten, dass Odysseus und sein Gefolge auf Agamemnons Rat eben genau mit Achill und seinen Myrmidonen ausgezogen sind. In schwarzer Rüstung und mit schwarzen Schilden ausgerüstet, glänzt das überschaubare Heer durch Tapferkeit und Kampfkraft. An dieser Stelle ist es hilfreich, Assoziationen, die sich mit dem Konzept „Achill und die Myrmidonen“ verbinden, bei den Studierenden wachzurufen und Vergleiche mit ihrer Lebenswelt oder Assoziationen zu aktuellen Ereignissen oder zur jüngeren Geschichte nicht zu scheuen. Vielleicht finden sie im Nachdenken über das Konzept Krieg zu den Motiven und Intentionen des Dichters. Wir sollten uns weiterhin fragen, welches Konzept sich hinter dem die Verse eröffnenden Wir verbirgt. Wen schließt Odysseus in dieses Wir ein? Das abschließende „Achill und ich“ lenkt den sprecherischen Schwerpunkt auf Odysseus. Wir können annehmen, dass er auch an dieser Stelle des Textes zu prahlen versucht. Er will seine Unfähigkeit, mit der Situation umzugehen, überspielen. Dass er sich in den nachfolgenden Versen über das sogenannte Heer der Amazonen lustig macht und es herabwürdigt, kann als männliche Selbstüberschätzung gedeutet werden oder als eine Ablenkung von der Tatsache, dass nicht schneller und klüger gehandelt wurde: „Penthesilea, hieß es,/ Sei in den scyth’schen Wäldern aufgestanden,/ Und führ’ ein Heer, bedeckt mit Schlangenhäuten,/ Von Amazonen, heißer Kampflust voll,/ Durch der Gebirge Windungen heran,/ Den Priamus in Troja zu entsetzen.“ Odysseus versucht, das Problem Penthesilea herunterzuspielen. Die Art, wie er ihren Namen ausspricht, das Erwägen eines Gerüchts, die räumliche und kulturelle Entfernung zu den scyth’schen Wäldern, der ironische Ton, mit dem er das Wort Heer für einen Haufen berittener Frauen verwendet, der Verweis auf ihre Kleidung und Stimmung und darauf, wie sie sich unbemerkt durch die Landschaft bewegen, ist voller Ironie und unterschwelliger sexueller Andeutungen. Und trotzdem wird deutlich, dass eine Gefahr von ihnen ausgeht, denn sie kommen ja heran und wollen sich wohl mit den Trojanern gegen die Griechen verbünden. An dieser Stelle des Textes versucht Odysseus, die Amazonen zu denunzieren, während er am Ende seiner Replik voller Bewunderung spricht: „Penthesilea,/ Wie Sturmwind ein zerrissenes Gewölk,/ Weht der Trojaner Reihen vor sich her,/ Als gält es über’n Hellespont hinaus,/ Hinweg vom Rund der Erde sie zu blasen.“ Odysseus’ Beziehung zu Penthesilea hat sich verändert. Obwohl er weiß, wie sich die Geschichte noch entwickeln wird, ist er ganz dem unmittelbaren Eindruck verhaftet. Er erinnert sich und ruft seine körperlich gespeicherte emotionale Erfahrung dieses Moments ab. Er erkennt die Amazonen als ernstzunehmende Partnerinnen an. Wir finden zwei unterschiedliche Sprechhaltungen, mit denen die Beziehung zu Personen ausgedrückt und in einer aktuellen Sprechsituation gehandelt wird. Der gedankliche Bogen umfasst mehr als vier Verse und braucht einen langen Atem. Er lässt sich zusammenfassen zu: „Sie weht sie vor sich her, als gält es, sie hinweg zu blasen.“ Der Einschub „wie Sturmwind ein zerrissenes Gewölk“ bezieht sich auf Kraft und Schnelligkeit und korrespondiert mit dem Verb wehen. Penthesilea kommt wie eine Naturgewalt daher. Wir finden eine Häufung des Reibelautes W, was das sprachliche Bild von Wind und Wehen lautlich unterstützt. Odysseus staunt, er bewundert, er kann es nicht fassen. Sein Körper, Atem, seine Stimme und Sprechweise sind an diese Haltung angeschlossen. Griechische und trojanische Krieger bewegen sich in Phalangen, deren Schlagkraft in der Geschlossenheit besteht. So können sich die Krieger zwar gegenseitig schützen, sind aber nicht sehr flexibel in ihren Aktionen gegen den Feind. Sie gehen selbst im Rückzug einem geordneten Kriegshandwerk nach. Während die Amazonen in zerrissener Formation praktisch von überallher angreifen. Die Wucht der Attacke scheint auf die völlige Vernichtung ausgerichtet. Werden doch die Trojaner, von denen wir aus den Versen 22 bis 26 erfahren, dass es sich lediglich um eine Schar von ihnen handelt, nicht nur über den Hellespont hinaus, sondern gleichsam vom Erdenrund geweht. Der Hellespont bezeichnete einst die Meerenge zwischen Europa und Asien, heute nennen wir die Verbindung von Ägäischem und Marmarameer Dardanellen. Wahrscheinlich befand sich die Stadt Troja auf einem Hügel am Hellespont im Nordwesten der heutigen Türkei. Das sprachliche Bild hat eine geografische wie auch eine politische Dimension. Die Trojaner fliehen, von den Amazonen getrieben, den Griechen entgegen. Odysseus nutzt die Verwirrung der Trojaner und will die Amazonenkönigin, von der er annimmt, sie habe sich nun anders entschieden und die Seiten gewechselt, begrüßen. Dass die Amazonen völlig andere Motive zum Kampf treiben, als sie die Griechen und Trojaner haben, weiß er immer noch nicht. Er kann sich aus seinen Denk- und Wahrnehmungsschemata schwer befreien. Penthesilea begegnet bei dieser kurzen Unterbrechung ihres Kriegszugs Achill, den sie als den ihr vorausbestimmten potenziellen Gegner und Auserwählten erkennt. Sie erklärt Odysseus und ihm den Krieg und kämpft, nachdem die Trojaner dem gleichen Irrtum erlegen sind wie Odysseus, nun sowohl gegen Griechen als auch Trojaner.