Hauptsache: spielen! Um die Wette von Eugène Labiche. Deutsch von Elfriede Jelinek
Landestheater Niederösterreich St. Pölten, Premiere am 28. September 2018. Bühne und Kostüme Isabelle Kittnar
von C. Bernd Sucher
Erschienen in: Radikal jung 2019 – Das Festival für junge Regie (04/2019)
Assoziationen: Österreich Philipp Moschitz Elfriede Jelinek Eugène Labiche

Philipp Moschitz ist ein Tausendsassa: Sänger, Schauspieler, Musiker, Choreograf, Regisseur, Spaßmacher. Un homme du théâtre! Und kein Intellektueller – was durchaus nicht bedeutet, dass er nicht gebildet ist. Im Gegenteil! Nur gibt er damit nicht an. Obwohl er auf die Frage, ob er womöglich in der Branche als unintellektuell wahrgenommen werden könnte, durchaus eitel kontert: „Unintellektuell?! Weil ich mich mit Literatur beschäftige? Weil ich mich mit gut geschriebenen Figuren auseinandersetze und vielschichtige Charaktere zu lesen versuche? Weil ich mir Stücke aussuche, in denen poetische Bilder kraftvoll sein könnten? Weil ich ein Geschichtenerzähler bin? Weil mir die Figuren eines Stücks und deren Konflikte am wichtigsten sind? Weil ich musikalisch bin? Weil ich ein gutes Rhythmusgefühl habe? Weil ich choreografieren kann? Weil ich mit einer Komödie das schwerste theatrale Genre bediene? Weil ich auch Musicals inszeniere? Weil ich Timing-Gefühl habe? Weil ich Partituren lesen kann? Weil ich mich in der Oper gut auskenne und sie inszenieren möchte? – Ja, vielleicht.“
Selbstironie ist seine Sache. Und Frohsinn. Philipp Moschitz zeigt sich, zumindest in der Öffentlichkeit, immer gut gelaunt: ein Frohgemut, der sich ein Leben ohne Theater nicht vorstellen kann – und mag. „Seit meinem sechsten Lebensjahr stehe ich auf diesen Brettern, die meine Welt bedeuten. Das ging los mit der Henze-Oper ‚Pollicino‘ und weiter mit ‚Die Zauberflöte‘, ‚Carmen‘. Ich erhielt Klavier-, Gitarren-, Geigenunterricht, ich spielte in der Theater-AG. Später erste Rollen am Stadttheater Osnabrück. 2004, im Jahr, in dem ich Abitur machte, war ich in sieben Produktionen in einer Spielzeit. Ich habe am Theater gesungen, gespielt, gewohnt, bevor es mich zum Schauspielstudium nach München zog. Immer stand fest: Ich muss ans Theater!“
Ich begegnete Philipp Moschitz während seines Studiums an der Münchner Theaterakademie August Everding – als Schauspieler und als Regisseur. Ich war dabei, als er seinen ersten großen Erfolg feiern konnte mit seiner Inszenierung von „Tschick!“ im Akademietheater der Hochschule. In der Spielzeit 2015/16 war diese Inszenierung monatelang auf dem Spielplan. „Die Rechte für München waren frei – ich wollt’s inszenieren und hab’s gemacht.“
Philipp Moschitz, 1985 in Osnabrück geboren, beendete sein Studium 2008. Schon zwei Jahre zuvor wurde er Ensemblemitglied des Metropoltheaters in München, gastierte (nebenbei!) am Residenztheater München, am Stadttheater Pforzheim, an der Bayerischen Staatsoper München, am Staatstheater am Gärtnerplatz und am Thalia Theater Hamburg. Und er führte Regie. Immer davon überzeugt, ein „Einfach-Macher“ zu sein, wie er ohne Koketterie sagt. Er arbeite „aus dem Instinkt heraus“ und fügt, diesmal durchaus kokett und sehr selbstbewusst, hinzu: „Einen Theater-Instinkt hat man oder man hat ihn nicht!“
Philipp Moschitz hat ihn und will nie vor die Entscheidung gestellt werden: entweder Regisseur oder Schauspieler. Ihm ist es eine Lust zu spielen, allein und mit anderen. Er mag es, andere zum Spielen anzustiften. Alles kann er leiden, nur nicht Spielpausen. „Ich bin glücklich, mich auf unterschiedliche Weise künstlerisch ausdrücken zu dürfen – ob mit einem Konzept für einen Stoff, ob mit einem Statement zu einem Thema oder aber mit einer Figur, die im besten Falle die Kanäle aller Emotionen öffnet und ihnen freien Lauf lässt. Ich liebe es zu proben und mich mit Situationen, Themen und scheinbar unlösbaren Konflikten und Problemen auseinanderzusetzen und dann unterschiedliche Wege zu nehmen, um sie womöglich zu knacken – im besten Fall in einem Team mit Kollegen, in dem alle die gleiche Sprache sprechen.“
Just deshalb legt er sich weder auf Texte und Projekte fest noch auf Spielweisen. Philipp Moschitz hat als Regisseur keinen Stil. Er geht mit Neugierde und einer nicht zu stoppenden Spielleidenschaft an jeden Stoff. Deshalb hat er auch überhaupt keine Probleme – intellektuelle Vorbehalte – mit Stücken, die ihm vorgeschlagen werden, die er sich also nicht ausgesucht hat. Ob Tom Waits’ „Alice“ oder Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ – egal. Hauptsache: spielen! Und warum nun Eugène Labiche? – Ganz einfach: „Ich wurde vom Landestheater Niederösterreich, also von der Intendantin Marie Rötzer, verpflichtet, eine Komödie zu inszenieren. Gemeinsam suchten wir ein Stück, mit dem Ziel: kein Mainstream, besondere Aussage, nicht so oft gespielt, lustig, vielleicht gesellschaftskritisch, eine Farce? Wir haben viele Autoren durchforstet, waren schnell bei Goldoni, Feydeau, Delaporte/de La Patellière und kamen schließlich auf Labiche und ‚La poudre aux yeux‘. Da es in St. Pölten viele Jelinek-Fans gibt natürlich in ihrer Übersetzung von 1988. Der erste Eindruck war – hui, verstaubt, altbacken, in die Jahre gekommen, sehr bemüht witzig.“
Danach jedoch haben er und das Ensemble in dem Text Fragen entdeckt, die zu beantworten sich vielleicht lohnen könnte. Zum Beispiel sei es seltsam, dass die meisten Menschen unzufrieden seien mit dem Erreichten, mit ihrer gesellschaftlichen Stellung. Rasch habe man sich geeinigt, dass das Thema virulent sei. „Sich mit dem Durchschnitt zufrieden zu geben, ist out! Immer besser, toller, neuer, spannender heißt das Credo!“
Genau darum geht es in Labiches Komödie „Um die Wette“, am 19. Oktober 1861 im Pariser Théâtre du Gymnase uraufgeführt. Der französische Titel des Zweiakters „La Poudre aux yeux“ heißt so viel wie Sand in die Augen streuen. Die Handlung ist schlicht; die Moral von der Geschicht’ bös. Zwei Ehepaare, die ihre Tochter bzw. ihren Sohn verheiraten wollen – und zwar zu den besten Konditionen –, betrügen und belügen einander, was ihre gesellschaftliche Stellung und ihr Vermögen angeht. Die Damen sind gewitzter noch als ihre Männer, um sich mit Lügen zu stilisieren als reiche Bourgeois. Die beiden, um die es geht, die Verliebten, Emmeline Malingear und Frédéric Ratinois, kriegen von der ganzen Aufschneiderei – nach den Motti: „Alles, was du kannst, kann ich viel besser!“ oder „Von allem, was du besitzt, habe ich noch mehr!“ – nichts mit. Sie lieben einander und üben das Klavierspiel. Natürlich fliegt der Schwindel auf. Am Ende stehen die vier sehr blamiert da: Ratinois besitzt keine Zuckerfabrik – er war Zuckerbäcker; Malingear ist nicht der erfolgreiche Arzt, in dessen Wartezimmer die Herzoginnen auf die Konsultationen warten, sondern ein armer Schlucker, der nur einen Patienten hat, den er auch noch gratis behandelt, einen Kutscher.
Der wird übrigens von Madame und Monsieur Malingear besonders begrüßt – es trifft irgendeinen Herrn in der dritten Reihe, Parkett rechts. Wir sind während dieser Begrüßung in der sechsten Minute der Aufführung, die rasant beginnt. Wie in einem Warm-up präsentieren sich alle beteiligten Personen, strömen herbei durch die Parketttüren und die Logen. Endlich auf der Bühne angekommen, sprechen sie Französisch. Madame Blanche Malingear, eine resolute Matrone mit viel Charme, fulminant gespielt von Gisa Flake, diktiert ihrer Hausangestellten, einem Transgenderwesen von besonderer Duftigkeit und Eleganz, so etwas wie einen Einkaufszettel. „Avez-vous compris?“, fragt Gisa Flake ins Publikum. Das antwortet laut lachend: „Nein.“ Das Ganze noch einmal, langsamer, deutlicher artikuliert. Dieselbe Frage in die Runde; dieselbe Antwort aus dem Parkett und vom Balkon. Reaktion auf der Bühne. „Also: deutsch.“ Wer auch immer danach auftritt mit einem „Bonjour“, wird sofort zurechtgewiesen: „Deutsch!“
Rasant geht dieser kurze Abend auch weiter. Philipp Moschitz und seine Bühnen- und Kostümbildnerin haben ein wunderbares Zeichen für die Hochstapelei der beiden Familien gefunden. In dem Einheitsraum – nur die Farbe der Tapeten und das eine Bild an der Wand erklären, wo die Szene spielt – steht ein großer, klobiger gelber Sessel. Aus dem Schnürboden werden nacheinander vier andere heruntergelassen, einer größer als der andere. Sie passen, gestülpt wie gestapelt, übereinander: eben Hochstapelei! Und um auf dem letzten Platz nehmen zu können, müssen die Herren Anlauf nehmen; und die Damen hangeln sich hoch, was nicht geht ohne die irrwitzigsten Verrenkungen. Um einander auszustechen, unterlassen die Malingears und die Ratinois nichts: Sie brüllen sich nieder, wenn sie singen – Edith Piafs „Non, je ne regrette rien“ oder Verdis „La donna è mobile“ oder Abbas „Money, Money, Money“. Sie schmeißen sich in die absonderlichsten Klamotten. Sie inszenieren sich um die Wette.
Ein kleines Wunder: Nie wird die kunterbunte und knallige Farce zur Klamotte. Denn Moschitz will in dem Text den Zuschauern durchaus eine Lektion erteilen: „Durch Erfahrungen und Ängste denkt der gute, kluge Mensch stetig ans Ablaufdatum. Der Jetzt-Moment oder das mögliche Zufriedensein, eine Beziehung zu führen, den perfekten Job zu haben, werden oft nicht wertgeschätzt. Es ist gut, dass wir nach mehr streben, dass wir uns nicht gleich mit etwas zufriedengeben, nur weil es der Weg des geringsten Risikos und Widerstandes ist. Aber wir werden mit dieser Einstellung vielleicht nie ankommen – oder doch?! Es ist nicht nur toll, Helden beim Gewinnen zuzusehen, ebenso macht es Spaß, Figuren zu beobachten, die schlimmer sind als man selbst – untalentierter, peinlicher, depperter, unmännlicher!? Schadenfreude ist die größte Freude. Sie bietet Entlastung vom alltäglichen Druck, macht vielleicht Mut und kompensiert Frust. Labiche lässt seine Figuren mit dieser Freude geschlechterspezifisch um die Wette laufen – das ist ja wie zu Hause – und wenn man genau hinschaut, ist dieser Text die Komödie zum Trumpismus des Jahres 2018!“
Im Gegensatz zu seinen jungen Kollegen lässt sich Philipp Moschitz auf Stücke ein, erfindet keine Projekte. Warum sind die anderen so vernarrt auf die eigenen Erfindungen? Er hat eine Antwort: „Because it’s modern directing performances.“ Und die Provinz schreckt ihn überhaupt nicht: „Als Regisseur kommst du immer mit deinen eigenen Ideen für Stoffe, deiner Lesart von Stücken, deinen wilden Gedanken, deiner persönlichen Energie – egal wo – an ein Haus und arbeitest mit vollem Engagement an der Umsetzung. Ebenso hast du deine eigenen theatralen Mittel und Kniffe im Gepäck. Du hast also viel in der Hand. Ich bin auf der Suche nach Reduktion auf das Wesentliche, um die Fantasie des Publikums anzuregen. Was brauche ich wirklich, um eine Geschichte zu erzählen? Gute Schauspieler gibt es überall – man muss nur deren Stärken erkennen. Umsetzungsproblemchen und Diskussionen wegen finanzieller Sparmaßnahmen gibt es auch überall. Abende, die polarisieren und polemisch sein könnten, gibt es auch überall. Mein Credo: Wenn mir ein Angebot gemacht wird, das ich nicht ausschlagen kann, bin ich dabei.“
Und seine Pläne? „Ich möchte genauso weitermachen wie bisher, mit großartigen Kollegen, die mir vertrauen und immer machen, was mir vorschwebt. Ich möchte Geschichten erzählen. Und noch etwas: Ich wünsche mir, nachts schneller einschlafen zu können!“