Magazin
Utopie folgt Industrie
Mit Auswärtsspiel: In Blumenthal bewegt sich das Theater Bremen auf die Menschen im randständigen Norden der Stadt zu
Erschienen in: Theater der Zeit: Peter Kurth: Die Verwandlung (09/2016)
Assoziationen: Bremen Theater Bremen
Ob dieses Grüppchen wohl das Festival verfolgt? Jedenfalls diskutieren die drei Passanten am Rande des Blumenthaler Marktplatzes aufgeregt, worum es bei Auswärtsspiel: Blumenthal des Theaters Bremen geht: um die bange Frage etwa, was sich aus diesem abgehängten Ortsteil im Norden der Stadt machen lässt. Einst ein florierender Industriestandort, das Domizil der Bremer Wollkämmerei, hat inzwischen nicht allein die Industrie Blumenthal verlassen. Auch die Einwohner und den Einzelhandel zieht es in Scharen fort. Verwaiste Schaufenster zeugen von beängstigenden Leerständen. Doch nun ist das Theater da. Ob im einstigen Ortsamt, in Wirtin Simones Kneipe Mix-it oder auf offener Straße: Schier überall herrscht auf einmal mächtig Betrieb in Blumenthal. Sogar auf dem Dach des Seniorenzentrums Haus Flethe.
Regisseur Frank Abt sowie die Schauspieler Gabriele Möller-Lukasz, Martin Baum und Siegfried W. Maschek zeigen dort John von Düffels „Robin Hood“ in der Ausstattung Nadine Geyersbachs. Wie beim gesamten Festival geht es auch hier um das Verhältnis von Utopien und Dystopien. Wobei die Fassung von Düffels und die Inszenierung Abts eher wenig Raum für Visionen übrig lassen. Bei ihnen gelingt es dem Sheriff von Nottingham gar, Robin Hood samt Lady Marian kurzerhand zu kaufen – ein jähes Ende nach nur 45 Minuten! Eine Sage um irgendwelche Vogelfreien aber entwickelt sich schon gar nicht. Stattdessen lässt von Düffel Little John kurz vor Ende sagen: „Die Geschichte ist alt, doch die Not ist noch da, / So mancher träumt heute von Robin Hoods Schar ...“ Voller Ironie arbeitet Abt auf das bitterböse Finale hin. Ein Kleiderständer symbolisiert den Wald, der Kleiderbügel steht für Pfeil und Bogen. Eine Meister-Propper-Flasche und ein Staubsauger dienen den Schauspielern als Handpuppen, um von Königstreuen wie von Notleidenden zu berichten: ein Puppenspiel der besonderen Art, das den sarkastischen Subtext dieser Aufführung treffend unterstützt. Natürlich bleibt ein fader Geschmack zurück: Wenn die Armen noch nicht einmal mehr auf Robin Hood zählen können, was bleibt ihnen dann noch?
Für ein wenig Zerstreuung sorgt im benachbarten Festivalzentrum das Konzert „Hei- matstunde“ der Schauspielerin Karin Enzler, die – mitten im Norden Bremens! – fröhlich jodelnd aus der Schweiz berichtet. Nur wenige Meter weiter, im Kellergewölbe des heute leer stehenden einstigen Ortsamtes Blumenthals, erinnern schwarz-weiße Fotos an die Geschichte des Ortsteils mit seiner Wollkämmerei. Obschon die Bilder erst wenige Jahrzehnte alt sind, gelingt es dem Gast doch kaum noch, die Brücke zur Gegenwart zu schlagen: Das soll Blumenthal gewesen sein?!
Wieder einige Häuser weiter betreibt Olaf eine große Carrera-Bahn, auf der sich, wer mag, zwischen all den Theatervorstellungen, Performances und Ausstellungen austoben kann. Doch wirklich unbeschwert gestaltet sich auch das Spiel mit den kleinen Rennwagen nicht. „Zwei Monate noch“, sagt Olaf nämlich schließlich, „dann muss ich hier raus.“ Wieder eine Attraktion weniger.
Um eine andere, sehr große aber ist der Ortsteil nunmehr reicher: um das Theater. Denn dieses Auswärtsspiel: Blumenthal wird nicht das letzte gewesen sein, verspricht Natalie Driemeyer, seit Beginn der abgelaufenen Spielzeit Schauspieldramaturgin am Theater Bremen. In der Landeshauptstadt des Zwei-Städte-Staats knüpft Driemeyer genau dort an, wo sie an ihrer früheren Wirkungsstätte, dem Stadttheater Bremerhaven, aufgehört hat (siehe unseren Beitrag zu „Verzögerte Heimkehr – einige reisen nach Eldorado“ in TdZ 6/2011): Nicht das Publikum kommt bei ihren Festivals ins Theater, sondern das Theater kommt zum Publikum. Die Grenzen zwischen den Akteuren einerseits und den Zuschauern andererseits verschwimmen. Gleich 350 Anwohner konnte Driemeyer dieses Mal dazu bewegen, sich zu beteiligen. Einige von ihnen wollen auch im kommenden Jahr dabei sein, andere gar dauerhaft eine Verbindung zum Theater halten. Es kehrt wieder Leben ein in Blumenthal. //