Einleitung
von Viola Schmidt
Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)
„Es geht ums Hinsehen, begreifst du?
Das ist das Wichtigste: Schau hin!
Versteh die Leute. So schwer ist das nicht.
Sie sind nicht kompliziert.
Sie wollen nichts Ausgefallenes, nur will jeder das,
was er will, auf etwas andere Weise.
Und verstehst du einmal, auf welche Weise
einer etwas will, dann musst du nur wollen wie er,
und dein Körper wird folgen,
dann ändert die Stimme sich von selbst,
dann blicken auch deine Augen richtig.“
Daniel Kehlmann, Tyll
Seit über dreißig Jahren bin ich Sprecherzieherin. Fragen mich Menschen außerhalb meines unmittelbaren Arbeitsumfelds nach meinem Beruf, wird meine Antwort häufig korrigiert: „Ach, Sie sind Spracherzieherin. Welche Sprache?“ Weise ich darauf hin, dass ich Schauspielstudierende unterrichte, höre ich manchmal: „Die können ja schon sprechen.“ Was wird im Fach Sprechen vermittelt? Die Erwartungen der Erstsemester sind unterschiedlich. Atem und Stimme sollen trainiert, Zischlaute und mundartliche Färbungen korrigiert werden. Manchmal wird auch der Wunsch geäußert, wie bekannte Schauspieler zu klingen. Doch die an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch entwickelte Methode des gestischen Sprechens kann viel mehr. Sie bedient sich unserer Fähigkeit zur Kommunikation, über die wir als biologische und soziale Wesen verfügen, und lädt zum spielerischen Umgang mit gesprochener Sprache ein. So bilden sich Kompetenzen und Fertigkeiten heraus und unsere Ausdrucksmöglichkeiten werden erweitert.
Begleiten Sie mich in den folgenden Kapiteln dabei, Ausdruckspotenziale zu entdecken und zu entwickeln. Lernen Sie die Methode des gestischen Sprechens kennen. Erfahren Sie, worauf sie gründet und wie sie angewendet wird.
Das Sprechen ist ein vielschichtiges Phänomen. Wir werden es aus vielen Blickwinkeln betrachten und die Perspektiven häufig wechseln. In einem spiralförmigen Lehr- und Lernprozess werden wir einige Umwege gehen und mit neuen Anregungen immer wieder zu unseren Ausgangsfragen zurückkehren. Die Ausbildung des Sprechens auf der Bühne bleibt unser Bezugspunkt. Wie das gestische Sprechen unsere basalen Fähigkeiten sinnlich erlebbar macht und weiterentwickelt, vermitteln ausgewählte Übungen und Spiele. Die Methode bedient sich natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Wenn wir ihr ganzheitliches Prinzip verinnerlicht haben, können wir selbstständig damit arbeiten. Die Übungen sind wiederholbar, in anderen Zusammenhängen anwendbar und können verändert und neu erfunden werden, ohne den Grundsatz des handelnden Sprechens unter Berücksichtigung konkreter Kommunikationssituationen aufzugeben.
Wir leben in einer Zeit, in der wir Sprache zunehmend lediglich als Mittel zur Informationsübertragung verwenden. Wir reden über Gefühle, ohne sie zuzulassen. Die Methode des gestischen Sprechens stellt den handelnden Menschen in das Spannungsfeld, das sich zwischen Wahrheit und Lüge auftut, um das Denken und Erleben zu erweitern und Klarheit in das Chaos der Welt zu bringen. Darum lege ich den Studierenden und Absolventen die Prinzipien des gestischen Sprechens ans Herz und empfehle sie ihrem Verstand. Aber nicht nur Schauspieler, sondern auch Regisseure, Puppenspieler, Choreografen, Dramaturgen, Autoren und alle, die öffentlich sprechen, profitieren von diesem Training. Interessierte Fachkollegen sind eingeladen, die Methode zu entdecken oder einen neuen Blick auf die Prinzipien des gestischen Sprechens zu werfen. Dass die Methode und ihre Anwendung die rasanten Entwicklungen unserer Zeit aushalten kann, bleibt zu hoffen. An den Veränderungen unserer Welt wird immer wieder neu zu überprüfen sein, wie sich die Sprache und das gestische Sprechen entwickeln.
Ohne die vielen Studierenden, die über die Jahre mit mir gearbeitet haben, gäbe es dieses Buch nicht. Vor allen anderen gilt ihnen allen mein Dank für ihr Vertrauen und den lustvollen Dialog, den ich mit ihnen führen durfte. Mein besonderer Dank gilt meinem Kollegen und Mentor Klaus Klawitter sowohl für Lob als auch Kritik auf meinem Weg in den Beruf und für dieses Buch. Ich bedanke mich bei dem Kollegium der Fachgruppe Sprechen für Rat und Tat und beim Rektor der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Holger Zebu Kluth, für die hilfreiche Unterstützung. Philipp Kronenberg sei bedankt für die grafische Umsetzung meiner Gedanken. Ein herzliches Dankeschön geht an meine Lektorin, Nicole Gronemeyer. Danke Mathias für dein geduldiges Zuhören. Danke Devid für dein freundliches Vorwort.
Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit habe ich auf die gleichzeitige Nennung weiblicher und männlicher Sprachformen bzw. genderneutrale Begriffe verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.