Magazin
Exotische Unterhaltung
Warum die Themen Asyl und Migration auf Berliner Bühnen bloß Klischees reproduzieren anstatt transkulturelle Räume zu öffnen
von Mehdi Moradpour
Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)
International heißt nicht zwangsläufig interkulturell. Migration wird auch im Theater oft nur entlang des öffentlichen Meinungsbildes behandelt. In der 2011 von Wolfgang Schneider herausgegebenen Publikation „Theater und Migration“ gelangt Annett Israel nach Beobachtungen des Umgangs mit Migration und dem Fremden im zeitgenössischen Theater für Kinder und Jugendliche zu diesem Schluss. Nach ihr lassen sich die Produktionen zumeist in drei Bereiche gliedern: Mitleiden (Migranten als Opfer von Krieg und Flucht), Befremden und Zerrissenheit (Migranten auf Identitätssuche) und Verurteilen (Migranten als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse, die sie zu Tätern machen).
Wenn Migration aber Tatsache und dieses Jahrhundert von massiven transkontinentalen Wanderungen geprägt ist, dann bedarf es in vielen Gesellschaften neuer Verhandlungen und eines Perspektivenwechsels, wofür angesichts der Ereignisse der letzten Jahre zurzeit auch viele Stimmen in Deutschland plädieren. Immer wieder werden in vielen gesellschaftlichen Debatten das Bedürfnis nach der Öffnung der eigenen Kultur und die Bereitschaft für eine intensive Auseinandersetzung mit Migrationskulturen diskutiert. Aber noch nicht immer Gegenstand dieser Dialoge ist die Frage danach, inwieweit die Ausgangskulturen auf die von der anderen Kultur generierten Güter oder Modelle zurückgreifen bzw. inwieweit sie sich neben einer Öffnung auch einem Prozess des Aushandelns aussetzen wollen, welcher keinesfalls nur harmonisch verläuft.
Das Theater ist als kreatives Laboratorium im Sinne einer transkulturellen Gesellschaft zum Aushandeln bereit. Hier stellt sich die Frage, wie es sich auf diesem spannungsreichen Terrain von Klischees, Betroffenheit und Kompatibilitätsfragen befreien kann. Wann wird die Thematisierung von Migrationskulturen nicht als Pflichterfüllung, Verzierung des Abendprogramms oder exotische Unterhaltung wahrgenommen, mit denen sich die Bühnen (häufig auch in Berlin) brüsten, sondern zur Selbstverständlichkeit eines politischen Theaters?
Drei Berliner Bühnen nahmen sich des Themas in den ersten beiden Monaten des Jahres in unterschiedlichen Formen an. Ali aus Togo, Safiye aus der Türkei und Felleke aus Äthiopien erzählen im Heimathafen Neukölln ihre Lebensgeschichten. Aus mehreren mit Asylbewerbern geführten Interviews entstanden die „Asyl-Monologe“ des Regisseurs Michael Ruf. Die erste Produktion des Berliner Vereins Bühne für Menschenrechte wurde bislang ca. 90 Mal in 55 Städten dargeboten. Das Stück, dessen Fokus stärker auf den Inhalt und auf die Identifikation als auf eine Ästhetisierung gerichtet ist, erzählt von Verfolgung und Unsicherheit der drei Asylsuchenden in ihren Herkunftsländern, von ihrem Kampf um Anerkennung als politische Flüchtlinge und dem Gefühl der Ungewissheit in Deutschland.
An der Berliner Schaubühne lud die Publizistin Carolin Emcke im Rahmen der Reihe „Streitraum“ mit dem Schwerpunkt „Postdemokratie: Ist die Demokratie am Ende oder nur die Verkrustung, die sie gelähmt hat?“ zu einer Diskussion ein, die sich der Asyldebatte in Deutschland widmete. Der Hungerstreik iranischer Flüchtlinge in Würzburg war der Ausgangspunkt für die Errichtung mehrerer Protestcamps in einigen Städten Deutschlands. Gemeinsam mit der Moderatorin erörterten Canan Bayram (Grünen-Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin), Thomas Gebauer (Geschäftsführer von medico international) und Patras (Patrick) Bwansi (ugandischer Maler und Textildesigner) u. a. globalisierungsbedingte Fluchtgründe, die Lage der Asylbewerber und die Aktualität des Asylrechts 20 Jahre nach dem „Asylkompromiss“ sowie die Forderungen der protestierenden Flüchtlinge. Einhellig sprachen sich die Beteiligten und das Publikum für eine Verbesserung des aktuellen Asylrechts und für die Unterstützung der Wünsche der Flüchtlinge aus (Abschaffung der Residenzpflicht, Verkürzung der Antragsbearbeitung und Abschiebungsstopp). Da mehrere Politiker und Verantwortliche der Einladung zu der Veranstaltung nicht folgten, glich sie allerdings einer Sonntagsdebatte ohne Gegendynamik.
Aus ca. 50 Interviews, die ein aus Jugendlichen und Erwachsenen bestehendes Rechercheteam des Jungen DT mit Menschen führte, die ihre Heimat verloren oder verlassen haben, entwickelte Regisseur Tobias Rausch „Fluchtpunkt Berlin“, ein (semi-)dokumentarisches Stück über Bewegung, Flucht und die (Nicht-)Greifbarkeit der Heimat(-losigkeit). Familie, Freunde, Glücksgefühle, Erinnerungen, Kindheit, Sprache, der Geruch des Plastikballs, Musik, Traditionen, Butterbrezel, Ort der Geborgenheit, Schauplatz der Konflikte, Exil, Nichts, Utopie oder der Facebook-Account: Was auch immer Heimat ist oder nicht ist – für viele Menschen ist es irgendwann Zeit, sie zu verlassen. Zum Beispiel, wenn sie ihnen fremd oder gefährlich wird.
Vor dem Beginn der Vorstellung täuschen die Darsteller einen Konflikt vor: Vermeintlich wurden einige Sitzplätze doppelt belegt, woraufhin einige Zuschauer aufgefordert werden, den Saal zu verlassen. Eine Gruppe von Jugendlichen huscht auf die Bühne: „Wir bleiben hier!“ Selbstbewusst und mit großem Körpereinsatz spielen und erzählen die jungen Erwachsenen Flucht- und Lebensgeschichten unterschiedlicher Art in collageartigen Szenen. Auch wenn einige von ihnen etwas überladen wirken – beliebig wird es nicht.
Tobias Rausch seziert die unfassbaren Situationen der Flüchtlinge, Migranten und Vertriebenen in kleine Segmente, lässt ihre Stimmen für sich sprechen und gibt dem Publikum die Möglichkeit, daraus eine eigene Realität zu kreieren. Der Text erreicht die Befreiung von den Darstellern, niemand spielt eine feste Rolle. Mit fein getakteten Übergängen wechselt der Regisseur zwischen Melancholie, Ernsthaftigkeit und Humor. Wir hören und sehen einerseits Geschichten von Asylsuchenden aus Afghanistan, Bosnien, Iran, der Mongolei, Türkei oder Vietnam, die aus mannigfaltigen Gründen geflohen sind: Krieg, ethnische oder religiöse Konflikte, Verfolgung, Zerstörung von wirtschaftlichen Grundlagen. Andererseits geht es um Flüchtlinge in Japan nach dem Erdbeben und dem Störfall im Atomkraftwerk, um Heimatvertriebene des Zweiten Weltkriegs oder um Bewohner eines abgebaggerten Dorfes in der Lausitz.
Als der eiserne Vorhang hochgeht, blicken wir zuerst auf Javids baumelnde Füße. Er hat sich in einem Asylbewerberheim erhängt. Der Vorhang fährt weiter hoch, und dieselben Füße zappeln. Sie gehören dem Mädchen aus Breslau, das bei Bombenalarm während des Zweiten Weltkriegs im Keller schaukeln durfte. Gleichzeitig bekommen wir die schräge Konstruktion mit unfertigen Treppen, Geländern und Fenstern auf der Hauptbühne zu sehen. Wie Parkours-Traceure hasten die Flüchtlinge durch und um dieses auseinandergefallene Betongebilde. Jegliches Hindernis muss überwunden werden – wenn es nicht geht, drückt man auf einen Knopf: „Da macht’s Klick, und dann ist der Überlebensmodus an“, manchmal. //