Georg Lukács als Theaterhistoriker
von Erik Zielke
Erschienen in: Georg Lukács – Texte zum Theater (06/2021)
»Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker« – so lautet der Titel eines Buches von Georg Lukács von 1948. Schon der oberflächliche Blick auf diese eher randständige Publikation im umfangreichen Gesamtwerk von Lukács gibt eine Ahnung davon, wie eine Literatur- und damit auch eine Theatergeschichte des ungarischen Philosophen angelegt sein könnte. Dass Marx und Engels als Bezugspunkte auftreten, überrascht kaum. Sie sind die Stützen seiner gesamten Philosophie. Die Geschichte von Literatur und Theater lassen sich genauso wenig von der Gesellschaft, aus der sie hervorgehen, trennen wie irgendeine andere Form der Geschichtsschreibung. Liest man die Kapitelüberschrift »Tragödie und Tragikomödie des Künstlertums im Kapitalismus« aus dem Buch, wird schnell klar, dass Lukács nicht den Versuch unternimmt, die Entwicklung literarischer Strömungen, den Weg von einem Kunstwerk zu einem folgenden oder bloße rezeptionsgeschichtliche Fährten nachzuzeichnen. Er interessiert sich für die Bedingungen, unter denen Dramatik entstehen kann, und er zeigt, wie gesellschaftliche Realität in Literatur ihr Abbild gefunden hat. Nirgends geht es um einen mikroskopischen, rein hermeneutisch-interpretatorischen Ansatz, der auch nicht seinem Horizont entsprechen würde.
Lukács’ Theatergeschichte ist voraussetzungsreich – aber nicht in dem Sinne, dass sie unzugänglich wäre. Zur Voraussetzung hat sie seine Ästhetik. Eine Theatergeschichte ohne eine ihr zugrunde liegende Ästhetik liefe Gefahr,...