Theater der Zeit

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Auftritt

Schauspiel Leipzig: Der Zollstock im Raum

„Der Girschkarten“ von Lukas Rietzschel (UA) – Regie und Bühne Enrico Lübbe, Kostüme Teresa Vergho, Musik Peer Baierlein, Thibault Madeline, Video Matthias Gruner

von Vincent Koch

Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Dossier: Uraufführungen Lukas Rietzschel Enrico Lübbe Schauspiel Leipzig

Katja Gaudard in „Der Girschkarten“ von Lukas Rietzschel (UA) in der Regie von Enrico Lübbe am Schauspiel Leipzig. Foto Rolf Arnold
Katja Gaudard in „Der Girschkarten“ von Lukas Rietzschel (UA) in der Regie von Enrico Lübbe am Schauspiel LeipzigFoto: Rolf Arnold

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Der Abend beginnt mit einem Durchbruch. Ein zwielichtig dreinblickender Kammerjäger schleicht vor einer geschlossenen Wand herum, bewegt seinen Kopf im Rhythmus des schneidenden Beats und stürzt dann unvermittelt die Wand um. Ein Windstoß fährt durchs Publikum. Fast ein magischer Vorgang. In der sterilen White Box, die zum Vorschein kommt, stehen ein paar Menschen herum, die aussehen, als wäre man wirklich gerade bei ihnen eingebrochen. Sie starren mit eiserner Miene ins Leere, wirken wie weggetreten. In der Ecke türmt sich ein schwarzer Kabelsalat, von der Decke hängen ein paar nackte Glühbirnen herab. Und dann, als hätte man einen Schalter umgelegt, fangen die Figuren plötzlich an zu reden: „Autobahnen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren“.

Eine ganz normale Familie ist es, die Lukas Rietzschel hier aufeinandertreffen lässt. „Der Girschkarten“ entstand als Auftragswerk für das Schauspiel Leipzig, für das der Görlitzer bereits „Widerstand“ schrieb, was coronabedingt nur als Theater-Film gestreamt wurde. Beide Stoffe nahm sich Schauspiel-Intendant Enrico Lübbe an. Für den „Girschkarten“ hat Rietzschel den Tschechow-Stoff aus der russischen Sommerfrische in eine Reihenhäusersiedlung auf dem Land verlegt, in der Carports und Regentonnen bürgerlicher Standard sind und grelle LED-Straßenlaternen den Anschein von Fortschritt erwecken wollen. Dort steht, inmitten zweier Neubau-Areale, das alte Haus einer Familie mitsamt Kirschgarten. Als „Relikt der Geschichte“, denn es ist verwuchert, der Strom wacklig, und unbewohnt. Noch dazu trennt es zwei Siedlungshälften voneinander. Was also tun mit diesem Haus?

Für die Großmutter ist klar: „Diese Zusammenkunft braucht es nicht“. Während der Sohn Peter schon einen Termin bei der Sparkasse hat, um den Verkauf des Hauses zu arrangieren, schlägt seine Tochter Anja vor, ein Ferienhaus mit Sauna daraus zu machen. Alternativ könnte man auch auf eine Wertsteigerung in ein paar Jahren warten. Onkel Alexander steht im Strickpulli verloren in der Gegend herum und betont, dass er alle zwei Wochen hier den Rasen mähe, weiß aber sonst auch nicht, auf welcher Seite er steht. „Ihr habt mich schon ins Heim gesteckt, jetzt nehmt ihr mir auch noch meine Kindheit weg“, wettert die Großmutter. Und damit ist der Ton gesetzt für diese „Debatte“, bei der sich die Figuren in den kommenden eineinhalb Stunden mit Vorwürfen, Schuldzuweisungen und emotionalen Entgleisungen bombardieren werden, weil der Garten für alle etwas völlig anderes bedeutet.   

Enrico Lübbes gelungene Uraufführung vertraut dem Text auf ganzer Linie und legt mit seinem abstrakten Setting in der Whitebox die Figuren und ihre Gefühlswelten komplett frei. Hier kann sich niemand aus der Affäre ziehen oder ausbüxen, hier gibt es ein Problem, zu dem man sich verhalten muss. Sein Ensemble meistert diese Marathon-Unterhaltung mit präzisen Figuren und herrlichen Gefühlsausbrüchen. Katja Gaudards bockig-resolute Großmutter ist das Highlight des Abends, wie sie mit wenigen Haaren, geisterhaftem Kleid und verunglücktem Lidschatten über die Bühne pantoffelt und Tiraden loslässt, die Dirk Langes Peter als abgeklärten Städter zur Weißglut treiben. Der klammert sich deshalb an seine Freundin Dunja, die neu in der Familie ist und sich bei Lisa-Katrina Mayer als Diplomatin aufspielt. Da werden in einer Tour Augenbrauen hochgezogen und verächtliche Blicke gesendet. Manchmal starren die Figuren auch einfach minutenlang an die Wand. Ein starkes Bild für den Stillstand. Was auch beweist, dass die etwas effektbemühten Videoglitches zwischendurch gar nicht nötig gewesen wären, weil die vertrackten Zustände spätestens klar werden, als die Familie sich den schwarzen Kabelsalat in den Mund stopft. 

Sowieso herrscht hier eine komödiantische Grundstimmung, die Rietzschel – ganz Tschechow-like – in seinem Text auch besonders hervorgekehrt hat. Man hängt sich gern an Grundsatzdebatten und Banalitäten auf, was Exkurse zu selbstgemachten Gurkenschnittchen ebenso einschließt wie eine Passage über Zaubertricks und wiederholte Referenzen zum Supermarkt. Den Höhepunkt erreicht die Chose, als die Familie plötzlich über die Sinnhaftigkeit eines Zollstocks streitet („Es gibt keine rechten Winkel“) und am Boden krabbelnd das Grundstück millimetergenau vermisst – könnte ja noch wichtig werden. 

Der Zollstock-Streit ist ein gutes Beispiel dafür, wohin Lukas Rietzschel mit diesem Text und seinem liebenswerten Sound will. „Der Girschkarten“ beschreibt die gesellschaftliche Tendenz, dass sich Debatten durch Emotionalität („Du bist ja nie hier“), Nostalgie, und Ausflüchte in Grundsätzliches komplett ins Absurde verschieben. Am Ende hat sich die Familie zwar um Kopf und Kragen in eine kommunikative Sackgasse diskutiert, ist aber inhaltlich kein Stückchen weitergekommen. Die Debatte dreht sich im Kreis, weshalb sich im Stücktitel schon die Buchstaben verdreht haben – was explizit kein sächsischer Schlenker sein soll. Rietzschel, der oft als „Stimme des Ostens“ gelabelt wird, gelingt damit ein grandioses, universales Bravourstück über unsere gegenwärtige Debattenlage, bei der alternative Fakten hoch im Kurs sind. Die an diesem Abend plötzlich die Großmutter aus dem Hut zaubert, als sie allen verkündet, dass sie das Haus eh längst an die verschrobene Nachbarin verschenkt habe die bei Tilo Krügel klobige High Heels trägt und die Axt für die Abholzung parat hat. Der ganze Spaß umsonst? Die Familie klotzt verdutzt, stemmt die Wand wieder hoch und fährt weg. „Morgen sieht die Welt ganz anders aus“, sagt Dunja. Wer’s glaubt.

Erschienen am 5.12.2025

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