Stück
Europa kann nur als Kriminalgeschichte erzählt werden
Alexander Eisenach über sein Stück „Die Entführung Europas oder Der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft“ im Gespräch mit Jakob Hayner
von Alexander Eisenach und Jakob Hayner
Erschienen in: Theater der Zeit: Die rote Revolution – Russland zwischen 1917 und der Gegenwart (11/2017)
Assoziationen: Dramatik Berliner Ensemble
Alexander Eisenach, in „Die Entführung Europas oder Der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft“ geht es im Stile einer Hardboiled-Kriminalgeschichte um einen Privatdetektiv namens Max Messer auf der Suche nach der verschwundenen Frau eines Syndikatsbosses. Woher kam diese Idee?
Der Ausgangsgedanke war, sich mit dem Kosmos Heiner Müller zu befassen. Und Max Messer ist ein Pseudonym von Müller, unter dem er das Kriminalhörspiel „Der Tod ist kein Geschäft“ veröffentlichte. Das war, wie gesagt, der Ausgangspunkt. Mir war aber klar, dass ich nicht einfach mit Texten von Müller würde arbeiten können. Das hat mit Müllers Sprache zu tun. Das ist eine Sprache, die heute fremd ist, eine sehr metaphorische, wuchtige Sprache, die fast unzeitgemäß ist. Ich wollte eher den Ideen Müllers folgen, seinen Gedanken zu Europa, der Utopie nachgehen. Das waren meine theoretischen Überlegungen, die sich dann mit meinen formalen Überlegungen einer Kriminalgeschichte trafen. Ich arbeite gerne mit Genres. Und Müller hatte ja selbst dieses Kriminalhörspiel geschrieben, das dem verpflichtet ist, einem Genre, dessen Gestalten mit den Werken von beispielsweise Raymond Chandler, man denke an Philip Marlowe, abrufbar sind. Die Bilder stellen sich schnell ein: Los Angeles, korrupte Polizisten, dunkle Gestalten.
Heiner Müllers Texte sind in Form von Zitaten in Ihrem Stück sehr präsent. Wie kam die Beschäftigung mit Müllers Werk zustande, was interessiert Sie daran?
Die Beschäftigung mit Müller hat für mich mit der Arbeit an dem Stück eingesetzt. Ich kannte Stücke von ihm vorher, hatte aber auch großen Respekt vor dem Autor. Ich wäre beispielsweise nie auf die Idee gekommen, ihn zu inszenieren, das könnte ich mir inzwischen aber vorstellen. Mir kamen seine Texte immer etwas unzugänglich vor. Was mich zunächst interessierte, war Müller als öffentliche Figur, in seinen Interviews mit Alexander Kluge oder Frank Raddatz. Die provokante Schärfe seiner Überlegungen hat mich angezogen. Und er hat etwas, was ihn mit dem Genre des Krimis verbindet, es sind Überlegungen eines Außenseiters, eines outlaws, der zwischen dem Staatsapparat der DDR und dem Westen steht. Müller mit Lederjacke, Whisky und Zigarre bleibt ein Renegat, der immer nach etwas anderem strebte. Heiner Müller ist shady, zwielichtig.
Sich eines populären Genres zu bedienen gilt gerade in politisch ambitionierten Theaterkreisen ja eher als verpönt. Sie haben allerdings schon in Ihren vorigen Stücken „Der kalte Hauch des Geldes“ und „Der Zorn der Wälder“ mit Western und Film noir gespielt. Was finden Sie daran reizvoll?
Das Spiel mit den Genres macht mir großen Spaß, denn es erlaubt eine Art des Spiels mit dem Spiel. Das heißt, einen Umgang mit der Genrefolie, die diesen Umgang und damit unseren Blick auf Realität und Kunst thematisiert. Es gibt Regeln, aber man kann auch einfach Regeln brechen. Und man kann leicht Überzeichnungen herstellen. Das gibt mir auch als Regisseur die Möglichkeit, freier zu werden. Man braucht keine psychologische Beglaubigung, auch nicht Kohärenz oder strikte Kausalität. Es ist ein bisschen wie bei Müller, der Realität und Mythos übereinanderlegt, auch Elemente aus der Popkultur, wenn man an „Hamletmaschine“ denkt, wo Ophelia Elektra, aber auch Ulrike Meinhof und Teil der Manson Family ist. Ein Palimpsest. Dafür eignet sich auch das Genre, für Überschreibungen.
Sie nutzen das Genre aber auch, um Texte zeitgenössischer politischer Theorie zu verhandeln, es tut sich eine ganz eigene Spannung zwischen den Stereotypen der Populärkultur und den akademischen Diskursen auf. Der Privatdetektiv spricht zum Beispiel plötzlich mit Walter Benjamin.
Das ist die Bruchstelle. Das Genre nur zu reproduzieren wäre nicht interessant, aber wie man diese anderen Texte sagbar machen kann, ist durchaus interessant. Mich stört das bei politischem Theater, dass es sehr akademisch, sehr vortragsähnlich ist. Oder es wird sehr psychologisch und betrifft nur eine Person. Wenn ich aber stereotype, unpsychologische Figuren habe, die solche Texte sprechen, bekommt das eine Reibung. Figur und Text sind nicht identisch, sondern der Bruch ist gewollt dargestellt.
In Ihrem Stück ist beispielsweise vom Übergang des Anthropozäns zum Kapitalozän die Rede. Was ist damit gemeint?
Das Kapitalozän ist die Epoche, in der es den Menschen nicht mehr braucht und das Kapital alles prägt. Das hat nicht nur zur Folge, dass sich die Finanzindustrie in immer absurderen Verwertungskreisläufen bewegt, sondern auch, dass die hässliche Produktion in die sweatshops der Peripherie ausgelagert wurde, während in den Zentren die Leute in irgendwelchen bullshit jobs gefangen sind. Die Kapitalströme gehorchen dabei letztlich Algorithmen, Menschen sind hier überflüssig. Was unser Leben bestimmt, das Kapital, ist völlig entkoppelt – und zudem ist die Kapitalmacht sehr konzentriert. Eine Untersuchung zeigte jüngst, dass acht Personen ebenso viel Vermögen besitzen wie die halbe Erdbevölkerung, 3,5 Milliarden Menschen. Achille Mbembe hat in seinem Buch „Kritik der schwarzen Vernunft“ gesagt, dass sich der Status des „Negers“ verallgemeinert, weil die funktionale Unterwerfung des eigenen Lebens inzwischen von immer mehr Menschen auf der Welt erfahren wird. Das Kapitalozän ist das Zeitalter, das die Abschaffung des Menschen betreibt. Das hat Heiner Müller schon beschrieben, sehr prophetisch. Wenn man vergleicht, wie oft man am Tag in den Himmel blickt, wie lange man aber an irgendwelchen Bildschirmen hängt, kann man schon – ohne in eine fortschrittsfeindliche Tirade einzustimmen – sagen, dass da auch etwas verloren geht. Theater kann da vielleicht auch eine Unterbrechung im Benjamin’schen Sinne sein, wenn sich mehrere Hundert Menschen versammeln, ihre Smartphones in den Taschen lassen, in eine Richtung schauen und für eine Zeit einmal gemeinsam einer Lüge glauben, statt jeder seiner eigenen privaten. Den Lauf der Dinge zu unterbrechen ist etwas, worum es noch gehen könnte.
Das Nebeneinander von Verelendung und Sinnentleerung, das Sie beschrieben haben, erinnert an eine Welt, in der „neben uns die Sintflut ist“, wie es der Soziologe Stephan Lessenich in seinem Buch über die Externalisierungsgesellschaften nennt. Das kommt auch in Ihrem Stück vor, mit dem Sprung in den Kongo.
Das ist der Schatten unserer eigenen Welt. Die Konsequenzen unseres eigenen Handelns werden gesellschaftlich verschleiert. Doch sie sind zugleich sehr real, mit Verarmung, Zerstörung der Natur, Menschen, die mit Schlauchbooten im Mittelmeer ertrinken. Das ist wie beim Berliner Stadtschloss, wo die Fassade der preußischen Aufklärung errichtet wird, sich drinnen die ethnologischen Sammlungen befinden sollen, aber die Menschen, aus deren Regionen die Objekte stammen, von der Aufklärung zunächst nur Sklaverei und abgehackte Hände hatten. Außerhalb unserer Grenzen wurden die Gesandten des Lichts ja eher als skrupellose Monster wahrgenommen. Ich finde das ein ungeheuerliches Bild, das bis heute fortlebt: In unserem Inneren sind wir diese vernünftigen, edlen Wesen, während wir in unserem Handeln – natürlich vermittelt über diverse Instanzen des Konsums und der Produktion – Barbaren sind. Wir tun so, als wäre das nicht Teil unserer Existenz. Der Kolonialismus ist der Schatten von Europa, mit Ausbeutung und Völkermorden und allem, was dazugehört. Und das kann man nicht mit fairem Handel, selbst angebauten Möhren auf dem Balkon oder selbst auferlegten Sprachverboten aus der Welt schaffen. Man denkt ja, dass die Reinhaltung der Sprache das Narrativ besiegen würde – das ist das große Mantra der Postmoderne, dass das Narrativ schon die Herrschaft sei, und wenn man das Narrativ ändert, sei die Herrschaft weg. Das ist aber eine Form der Verdrängung. Wenn man über eine Zukunft von Europa spricht, muss man aufhören, sich selbst nur Humanitätsgeschichten zu erzählen. Die Geschichte von Europa ist nämlich eine Kriminalgeschichte. Und wir müssen anders über die Organisation unseres Lebens nachdenken, wie auch der Philosoph Giorgio Agamben sagt, jenseits der bloßen Unterwerfung unter die Ökonomie. Eine Lösung habe ich da aber auch nicht. Das ist wie bei Max Messer im Stück, der auf der Suche nach Europa auch nicht weiß, wo er anfangen soll. Es geht ja auch um die ganze Welt. Mit Müller kann man sagen, dass wir ins Gespräch mit den Toten kommen müssen. Die Toten erzählen uns, wie der Mensch auf seinen Materialwert reduziert wurde. Und wir müssen uns fragen, wie wir davon wegkommen können. Das müssen wir, wenn man irgendwie an die europäische Aufklärung und Humanität anknüpfen und die damit verbundenen Werte ernst nehmen möchte. //
„Die Entführung Europas oder Der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft“ hatte am 21. Oktober Uraufführung am Berliner Ensemble. Der Text des Stückes sollte auf den nachfolgenden Seiten abgedruckt werden. Da aber bis Redaktionsschluss keine Einigung bezüglich verwendeter Zitate Heiner Müllers mit der Rechteinhaberin erzielt werden konnte, musste auf den Abdruck des Stückes leider verzichtet werden. Das Gespräch wurde geführt bevor diese Situation bekannt war. Die Redaktion hat sich kurzfristig entschieden, den Hörspieltext „Der Tod ist kein Geschäft“ von Max Messer abzudrucken, den Alexander Eisenach als Ausgangspunkt seiner Arbeit an „Die Entführung Europas oder Der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft“ bezeichnet.