Theater der Zeit

Schwerpunkt

Wer ist eigentlich unser Publikum?

Ein Gespräch über forschende Theaterpraxis für junges Publikum an der Universität Hildesheim

Petra Jeroma und Larissa Probst studieren in den Masterstudiengängen „Inszenierung der Künste und der Medien“ und „Kulturvermittlung“ an der Stiftung Universität Hildesheim, Julia Speckmann ist dort als Wissenschaftliche Mitarbeiterin zuständig für den Studienbereich Praktikum und das Arbeitsfeld Kultur. Ein Gespräch über Hildesheim als Ausbildungsort im Bereich Theater für junges Publikum sowie die über Suche nach neuen Formaten, Arbeitsweisen und Vermittlungsansätzen

von Julia Speckmann, Petra Jeroma und Larissa Probst

Erschienen in: ixypsilonzett: Karriere machen?! – Zur Ausbildungssituation in den Darstellenden Künsten für junges Publikum (05/2019)

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Inwiefern versteht sich die Universität Hildesheim als Ausbildungsstätte für Theater für junges Publikum?

Petra Jeroma: Keineswegs derart explizit. Vielmehr ist dies ein Bereich unter vielen in dem sehr breit und interdisziplinär angelegten Studium. Durchaus kann man hier auch Kulturwissenschaften oder Szenische Künste studieren, ohne überhaupt mit Theater für junges Publikum in Berührung zu kommen. Dass es hier eine Professur dafür gibt, ist natürlich toll! Dennoch ist es eher ein verhältnismäßig kleiner Teil der Studierenden, der sich tatsächlich dafür interessiert – mit steigender Tendenz.
Larissa Probst: Primär steht die Suche nach neuen Theaterformaten, Arbeitsweisen und Vermittlungsansätzen im Zentrum – erst einmal unabhängig vom Zielpublikum. Es geht darum, Theater als Experimentierfeld zu begreifen. Deshalb liegt der Fokus auch weniger auf der handwerklichen Vermittlung von Theater oder Theaterpädagogik. Es geht darum, das Bekannte zu überprüfen, zu befragen, Neues auszutesten.
Julia Speckmann: Für uns ist es essentiell, die Studierenden insgesamt zu befähigen, kritisch über die Künste nachzudenken, sich zu konfrontieren mit verschiedenen Theaterformen und grundsätzliche Fragen zu stellen nach den eigenen Mitteln, nach der zu ihnen passenden Theatersprache. Generell sehen wir uns nicht als Ausbildungsstätte, die direkt für einen Markt ausbildet. Die Gründer*innen unserer Studiengänge haben sich in den Anfängen sogar bewusst abgewandt vom regulären Theaterbetrieb und wollten die Lehre entsprechend anders gestalten.
 PJ: Das Besondere und Wichtige in Hildesheim ist, dass man nicht ausschließlich ‚Theater‘ oder ,Theater für junges Publikum‘ studiert, sondern den Schwerpunkt mit verschiedenen Nebenfächern wie Medien, Musik und Kulturpolitik kombiniert. Alles zusammen ermöglicht unterschiedliche Perspektiven, Reflexionen und Inputs, sodass man im besten Fall nicht nur in der eigenen Suppe schwimmt, sondern möglichst diverse Impulse erhält. Diese wiederum kann ich auf Theater für junges Publikum beziehen und anwenden. In der Theorie genauso wie in der Praxis, als forschende Theaterpraxis.

Muss man überhaupt speziell ausbilden für das Kinder- und Jugendtheater?

JS: Die Ursprünge unserer Studiengänge liegen in der sogenannten polyästhetischen Erziehung – der Name allein lässt schon ein generalistisches Ausbildungsprofil vermuten. Ich würde daher sagen: im engeren Sinne nicht. Wenn man Theater als Ganzheit in den Blick nimmt und bewusst keine Aufsplittung in Dramaturgie, Regie etc. vornimmt, warum sollte man dann innerhalb der Publikumsgruppen differenzieren? In Hildesheim ist übrigens die alte 68er-Idee, Theater mit Laien – heute sogenannte Expert*innen des Alltags – zu machen, schon seit Mitte der 90er Jahre Gang und Gäbe: die Heersumer Sommerspiele, Vorläufer der Bürgerbühnen, mischten Alte und Junge, andere Projekte Alteingesessene und Neuzugezogene, wieder andere richteten sich an Menschen mit Beeinträchtigungen. Vielleicht hat dieses Interesse an den Voraussetzungen der Beteiligten in der Tat zu einer soziale(re)n Ästhetik geführt – war vielleicht Wegbereiter dafür, sich selbstverständlich gleichberechtigt oder sogar verstärkt für Kinder und Jugendliche zu interessieren.
LP: Ich würde antworten: ja und nein. Zum einen ist es sinnvoll zu betonen, dass es das Theater für junges Publikum als ‚besonderes‘ Feld des Theaters überhaupt gibt und dass dort eine andere Grundsituation herrscht als im ‚Erwachsenentheater‘ – allein auch im Hinblick auf den Kampf, den viele Theatermacher*innen für junges Publikum geführt haben, um diese spezielle Sparte zu etablieren. Die Konsequenz besteht für mich aber weniger darin zu lernen, Theater für junges Publikum auf eine fest definierte, schlimmstenfalls anbiedernde Art zu machen. Es geht darum, Theater zu machen. Theater, das sein Publikum ernst nimmt. Ich unterscheide nicht: das und das ist spezifisch für Kinder. Und das empfinde ich als absolute Qualität des zeitgenössischen Theaters für junges Publikum. Das ist auch eine Haltung, die mir die Lehre in Hildesheim vermittelt. JS: In der Publikation Theatermachen als Beruf betont Geesche Wartemann, Professorin mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendtheater, besonders den Aspekt der Haltung: Gerade im Vermittlungsbereich ist es wichtig, eine eigene Haltung zu entwickeln und Theaterbegriffe zu reflektieren, damit man nicht nur den zahlreichen Erwartungen, die von verschiedenen Seiten an einen herangetragen werden, dient, sondern selbstbewusst einen eigenen Weg entwickelt. Vielleicht ist Theater für junges Publikum übrigens einfach ein passendes Betätigungsfeld für unsere Studierenden und Alumni, weil sie den besonderen Wert kollektiver Arbeit erkannt haben, sich zurücknehmen können, nicht dominant ins Geschehen eingreifen müssen, Raum lassen können, emphatisch wahrnehmen und spiegeln.
PJ: Es braucht die Wahrnehmung und Bewusstmachung meines Publikums, und zwar immer wieder aufs Neue: Für wen mache ich das eigentlich? Ich sage nicht einfach, ich bin die Erwachsene, ich weiß, was für Kinder und Jugendliche richtig ist. Hier wird besonders kritisches Denken und eine Auseinandersetzung mit dem Zielpublikum gefördert, was ja ganz spezifisch im Kinder- und Jugendtheater ist. Dafür war es auf jeden Fall sehr hilfreich, sich in Seminaren wie „Zeitgenössisches Theater für und mit jungem Publikum“ oder „Texte inszenieren für junges Publikum“ mit verschiedenen Konzepten und Modellen auseinanderzusetzen. Was gibt es überhaupt? Wer sind die Macher*innen? Womit wird sich befasst?

Wie sieht die Verankerung künstlerischer Praxis für junges Publikum konkret im Studium aus?

JS: Wir wissen, wie wichtig die Praxis ist, und setzen auf Praxiserfahrungen. Lehre geht in der Praxis weiter, wird dort erprobt, überprüft. Daher bieten wir neben Seminaren auch Übungen an, Praktika sind bei uns Pflicht. Daneben gibt es speziell im Bereich Theater studentisch organisierte Festivals, die sich über die Jahre etabliert haben, und bei denen es in den letzten Ausgaben jeweils ein verstärktes Interesse für Fragen der Vermittlung gab, darunter auch die Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Des Weiteren orientieren sich viele schon im Studium nach außen, kooperieren, gründen Gruppen.
PJ: So haben wir auch unser Theaterkollektiv BwieZack gegründet: Tatsächlich ausgehend von der Übung „Texte inszenieren für junges Publikum“ – wir wollten über das Seminar hinaus weiter experimentieren und partizipative Formate mit jungem Publikum künstlerisch erproben.
LP: Einige außeruniversitäre Einrichtungen wie das Theaterhaus Hildesheim, von ehemaligen ‚Kuwis‘ gegründet, bieten dafür innovative Nachwuchsförderformate an, die junge Gruppen unterstützen.
JS: Im Prinzip erfährt man damit fast zwei Ausbildungen: eine offizielle und eine – durchaus vom Studium intendierte – mit den Kommiliton*innen durch die Gründung eigener Gruppen. Befördert wird dies durch das im Studium fest verankerte Projektsemester, das alle zwei Jahre stattfindet und in dem über ein ganzes Semester drei Tage die Woche in einem Projekt gearbeitet wird, sowie in den Szenischen Künsten ein weiteres Semester, das sich explizit der künstlerischen Praxis widmet. Ausbildung wird hier als etwas Dynamisches verstanden, Fächerwechsel sind Gang und Gäbe.

 Werden die Erwartungen an eine Ausbildung im Bereich Theater für junges Publikum erfüllt?

PJ: Für mich ist das eine Frage der Perspektive. Für diejenigen, die sich Theorie und Praxis, eigenes künstlerisches Schaffen, kritisches Denken und Hinterfragen erhoffen, definitiv. Das Studium ist offen und frei angelegt und man entscheidet selbst, wo man den eigenen Schwerpunkt setzen möchte, ob viel Theorie, viel Dramaturgie oder eben viel im Bereich Theater für junges Publikum dabei sein soll. Am Anfang hatte ich manchmal das Gefühl, von Kommiliton*innen nicht richtig ernst genommen zu werden, wenn man Theater für junges Publikum macht. Dafür ist es natürlich super, jemanden wie Geesche Wartemann zu haben, die ganz klar zeigt, dass es sich durchaus um eine ernstzunehmende Kunstform handelt, und dass Kindertheater keinesfalls nur pädagogisch und behutsam sein muss, geschweige denn nur Kasperletheater oder Witze über Käsefüße bedeutet. Sie lädt Profis aus der Praxis ein, die uns Einblicke in ihre Arbeit geben – Brigitte Dethier, Gabi dan Droste oder Hannah Biedermann –, und ermöglicht Kooperationen unter anderem mit dem FUNDUS THEATER | Theatre of Research in Hamburg.
LP: Am Anfang des Studiums hat es mir gefehlt, kein theaterpädagogisches Handwerkszeug vermittelt zu bekommen. Mittlerweile sehe ich das aber viel gelassener. Vielleicht weil ich doch – ohne dass ich es bewusst als solches wahrgenommen habe – viel Handwerkliches mitgenommen habe. Das Handwerkszeug, das man hier bekommt, ist eben das Gespür für das Ganze: den gesamten Kontext des Theaters zu betrachten und das Theater für junges Publikum als einen spezifischen Teil von diesem Ganzen. In diesem Zusammenhang fand ich es besonders bereichernd, an Exkursionen zu Kinder- und Jugendtheaterfestivals wie Augenblick mal! Das Festival des Theaters für junges Publikum in Berlin oder den alle drei Jahre stattfindenden internationalen ASSITEJ-Weltkongressen teilzunehmen und einen Einblick zu bekommen, wie das Kinder- und Jugendtheater in anderen Ländern funktioniert und gemacht wird. Und dadurch immer wieder die eigenen Vorstellungen und Haltungen zu überprüfen.
JS: Wir fragen uns natürlich ständig, ob wir den Erwartungen der Studierenden entsprechen, ob wir ihnen das liefern, was sie benötigen, um nach dem Studium in der Arbeitswelt zu bestehen. Einige unserer Alumni sind inzwischen selbst als Lehrende in dem Bereich tätig und tragen das Hildesheimer Verständnis von kreativer Praxis weiter. So sehen wir uns nach wie vor bestätigt in diesem freieren Bildungsgedanken. 2019 feiern wir übrigens das 40-jährige Jubiläum der kulturwissenschaftlichen Studiengänge in Hildesheim. Dies wird wieder ein Anlass sein, genauer hinzugucken, wer wo was macht.

Das Interview wurde am 20. Februar 2019, einen Monat vor dem Tod von Prof. Dr. Geesche Wartemann, geführt. Wir verlieren mit ihr eine zutiefst fachkundige und reflektierte Kollegin, Dozentin und Neudenkerin, deren unterstützende und äußerst wertschätzende Art sehr fehlen wird.

Petra Jeroma und Larissa Probst haben während ihres Bachelors mit vier Kommilliton*innen das Theaterkollektiv BwieZack gegründet. Julia Speckmann studierte im Doppeldiplom Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis/Médiation Culturelle in Marseille und Hildesheim. Gemeinsam mit Wolfgang Schneider hat sie 2017 Theatermachen als Beruf – Hildesheimer Wege herausgegeben.

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