Poetische Bilder
Wie das Ensemble Materialtheater die Macht der Imagination für politische Themen nutzt
von Mascha Erbelding
Erschienen in: Arbeitsbuch 2018: Der Dinge Stand – Zeitgenössisches Figuren- und Objekttheater (06/2018)
„Man kann nur über das erzählen, was man kennt.“ Dieser Satz, den in der Inszenierung „Der Garten“ (2010) eine Schauspielerin vorgibt, vom berühmten Regisseur „Wassili“ gelernt zu haben, zieht sich (mit einem großen Fragezeichen) wie ein roter Faden durch die Inszenierungen des Ensembles Materialtheater, das sich durch seinen dezidiert politischen Kurs auszeichnet – und dementsprechend in seinen letzten Arbeiten immer wieder auch um die Themen Flucht, Armut und Migration kreist. Das 1987 von den Absolventen des Stuttgarter Figurentheaterstudiengangs Sigrun Kilger und Hartmut Liebsch gegründete Ensemble Materialtheater, zu dem seit 2004 auch Annette Scheibler gehört, hat mit dem Autor, Regisseur und Schauspieler Alberto García Sánchez und dem Techniker Luigi Consalvo bereits künstlerische „Migranten“ im Team; auch die Vernetzung in der europäischen Objekttheaterszene trägt sicher dazu bei, dass die Gruppe diese Themen schon lange reflektiert.
In „Der Garten“ haben sich fünf Frauen (Sigrun Kilger, Annette Scheibler, Francesca Bettini, Alexandra Kaufmann und Sandra Hartmann) in einem idyllischen griechischen Garten versammelt, um Aischylos’ „Die Schutzflehenden“ zu proben – und natürlich geht es in der Inszenierung von Alberto García Sánchez auch um Flucht und Vertreibung, um Gewalt gegen Frauen. Doch wie kann man als gut versorgte Europäerin von diesen Themen sprechen, was wissen wir von Flucht und Krieg? Und wie kann man das Nichtselbsterfahrene darstellen? Das Ensemble Materialtheater stellt diese Fragen in der Inszenierung immer wieder. Die Konstruktion als „Theater auf dem Theater“ erlaubt ihnen, sich von der Handlung des Dramas zu distanzieren und ihren Zugang infrage zu stellen – in Teilen ein bitterböses Selbstporträt. Doch „Der Garten“ wäre keine Arbeit der Gruppe, wenn die Spielerinnen nicht zugleich immer wieder aus Aischylos’ Drama starke Bilder für die Not der Frauen, für die Frage nach dem Asyl finden würden. Dafür brauchen sie keine zehn Tonnen blauen Sand (die sich als Regieidee der Assistentin Corinne als Running Gag durch das Stück ziehen). Aus blauen Müllsäcken, mit Wäscheklammern aneinandergeheftet, wird das rauschende Meer, aus dem die Frauen mit ihren großen, im Ausdruck größter Not erstarrten Masken um Hilfe flehen – „Du entscheidest!“, ruft der Chor dem Publikum zu.
Die Inszenierungen des Ensembles Materialtheater versuchen, die Zuschauer*innen durch die Kraft der Imagination aufzurütteln. Durch Verfremdung mit den Mitteln des Figuren- und Objekttheaters und oft auch mit einem Gestus des „Zeigens“ – beides durchaus in der Nachfolge Brechts – wollen sie ihr Publikum zum Denken anregen. Es gibt eine Szene in Alexander Hectors sehenswertem Filmporträt zum 30-jährigen Bestehen der Gruppe, die die Herangehensweise ziemlich genau beschreibt. Alberto García Sánchez erzählt, wie er Theaterworkshops für Kinder mit einem Spiel beginnt: Er zeichne auf einer Tafel kleine Bilder und die Kinder sollten raten, was es ist. Vor der Filmkamera setzt Sánchez nun drei Striche, zwei gleich lang und parallel, der dritte schräg über den beiden. Die Kinder wissen sofort, das wird ein Haus, sie haben die fehlende, virtuelle Linie in ihrem Kopf ergänzt. Und das, so Sánchez, sei, was das Ensemble Materialtheater auf der Bühne suche: diese drei Linien zu finden, die dem Publikum erlaubten, „die virtuellen Linien der Geschichte selbst zu sehen“. So sind ihre Stücke häufig politische Parabeln.
Dieses Konzept setzt das Ensemble Materialtheater stets auch in seinen Kinderinszenierungen um. In „Ernesto Hase hat ein Loch in der Tasche“ (2008) für Kinder ab fünf Jahren (und ihre Eltern) wird Armut auf sehr originelle Art sichtbar gemacht. Immer mehr Löcher machen sich im Leben einer Hasenfamilie breit: kleine Flecken, die die Spielerinnen Annette Scheibler und Sigrun Kilger ganz plastisch auf deren Papphaus setzen. Auf der Flucht vor Armut und den Aufpasserhasen verschlimmert sich die Lage der Familie immer mehr, bis der kleine Ernesto zu verhungern droht. Das nun folgende Happy End, bei dem die Figur eines allein stehenden Hauses eine rettende Funktion einnimmt, ist ambivalent. Zumindest für die Eltern scheint klar zu werden, dass es sich hier leider nur um einen schönen Traum handeln kann. Die Ebene des Traums spielt in „Traumkreuzung“ (2015) für Kinder ab sieben Jahren ebenfalls eine große Rolle. Ein kleines europäisches Mädchen gerät im Traum aus Versehen in ein nicht näher benanntes Land, wo Kinderarbeit und Krieg Normalität sind. Es lernt aber auch die große Herzlichkeit der Familie ihres Traumfreundes kennen. Am Ende des Stückes stellt sich das Mädchen, wieder zurück im eigenen Kinderzimmer, die Frage, wie wohl die Familie des Traumfreundes bei uns aufgenommen würde – eine Frage, die das Publikum für sich beantworten muss. Das Ensemble nimmt sein Zielpublikum, die Kinder, ernst, und versucht, ihnen drängende und schwierige gesellschaftliche Themen altersgerecht, spielerisch und fantasievoll zu vermitteln, sie ebenso zum Nachdenken zu bringen wie die begleitenden Erwachsenen, mit denen die Kinder (im besten Fall) das Gesehene diskutieren werden wollen.
Mit „Der Friedhof oder das Lumpenpack von San Cristó-bal“ (2016) nach einer Erzählung des katalanischen Autors Pere Calders aus den sechziger Jahren griff das Ensemble das Thema Armutsmigration erneut für Erwachsene auf. Doch im Gegensatz zu den „Schutzflehenden“ nehmen die unerwünschten Eindringlinge sich hier zunächst einfach, was sie brauchen, und ziehen auf den Friedhof des kleinen Städtchens. Auch hier wird auf mehreren Ebenen gespielt. Die vier Spieler*innen Annette Scheibler, Sigrun Kilger, Daniel Kartmann und Sascha Bufe wechseln zwischen ihrer Funktion als Anzug tragende Manipulatoren, als Schicksalsmacht, die die ärmlichen Kartonbehausungen zu Beginn des Stückes zerstört, und der Darstellung der Figuren des Stücks – teils mit Puppen, teils als Schauspieler*innen. Eine der nun Unbehausten erzählt von einer Regenwolke, die die kleine Gruppe der Schutzsuchenden immer zu verfolgen scheint. „Das ist ein poetisches Bild“, kommentiert sie sogleich und setzt damit den zutiefst ironischen Ton des Stückes. Denn die Friedhofsbesetzung kann natürlich nicht folgenlos bleiben, obwohl die Toten und deren Seelen sich bald an die Lebenden gewöhnt haben und selbst die Hinterbliebenen sich mit den neuen Bewohner*innen der Grabstätten anfreunden können. Eine empörte Bürgerwehr ruft die Obrigkeit auf den Plan: Zunächst muss die Feldforschung ran. Annette Scheibler als Soziologin füllt für die Armen auf dem Friedhof einen Fragebogen aus, auf dem man als Ursache für die Armut neben der persönlichen Pechsträhne, der eigenen Schuld, dem Klimawandel auch „Ich strebe eine alternative Lebensweise an“ ankreuzen kann. Einzelschicksale spielen sichtlich keine Rolle. Bis eine ehemalige Studienkollegin vor ihr steht, genauso regungs- und wortlos wie die anderen Befragten, und die Situation unangenehm wird. Plötzlich rückt die Armut ganz nah heran. Schnell einen Schokoriegel und einen Kugelschreiber überreicht, und der Nächste bitte.
Doch die Besetzung des Friedhofs muss aufhören. Der Bürgermeister rückt an und fordert die Armen auf, den Friedhof zu verlassen. Die weigern sich natürlich. Die angesetzte demokratische Abstimmung durch Handzeichen gerät zur Farce. Denn die Puppen haben, im Gegensatz zur Bürgermeisterpuppe, keine Arme. Am Ende treiben die kleinen Puppen in einem Karton wie auf dem Meer – auch dies (nicht nur) ein „poetisches Bild“.
Das Ensemble Materialtheater glaubt fest daran, sein Publikum (und damit die Welt) durch sein Theater verändern zu können – auch wenn es diese Position immer wieder infrage stellt und ironisiert. Bewusst naiv in ihren Mitteln werfen sich die Bouffons des Ensembles Materialtheater in den Kampf gegen die Windmühlen des Kapitalismus – passenderweise setzten sie zum 30-jährigen Bestehen „Don Quijote“ in Szene. Im Filmporträt vergleicht Alberto García Sánchez das Theater mit dem verspiegelten Schild des Perseus, mit dem dieser die Medusa besiegen konnte: Er begegnete nicht Medusas versteinerndem Blick, sondern nur dessen Darstellung. „Es ist die Aufgabe des Theaters, uns eine Darstellung der Welt zu zeigen, in der wir leben. Eine Welt, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit verändert und uns Angst einjagt, mit ihrem digitalen Raubtiergebiss, ihrer Ungerechtigkeit und ihren Augen, die bereit sind, uns jeden Moment zu versteinern. Der Spiegelschild des Theaters erlaubt uns, diese Welt anzusehen und über sie zu lachen, ohne dabei vor Schreck zu sterben.“